Unsere Leseempfehlungen

Udo Martens: Narben verblassen, aber bleiben ein Leben lang

Cover Udo Martens "Narben verblassen, aber bleiben ein Leben lang"

10 Frauen und ihre Schicksale, erzählt von einem Berliner Kriminalkommissar
BoD – Books on Demand, 2022, 212 Seiten, 14,00 €

Den Impuls für sein erstes Buch erhielt der pensionierte Kriminalhauptkommissar von Almila Bagriacik, der Darstellerin von Hatun Sürücü im Kinofilm "Nur eine Frau". Sürücü wurde 2005 in Berlin von ihrem Bruder im Namen der „Ehre“ ermordet. 
Zehn Frauen mit ähnlichen - von Gewalt geprägten - Schicksalen bietet Martens mit seinem Buch ein Forum. Martens beleuchtet die unterschiedliche Gewalterfahrungen dieser Frauen, die unter anderem häusliche Gewalt erlebt haben, gestalkt wurden oder Gewalt im Namen der Ehre ausgesetzt waren. Er ist diesen Frauen während seiner Zeit in der damals neu eingerichteten Stelle zur Gefährdungsbewertung und Opferbetreuung begegnet.

Das Besondere an Martens Buch ist, dass er nicht nur über die betroffenen Frauen schreibt, er lässt sie auch oft genug selbst zu Wort kommen. So wird die gleiche Geschichte aus behördlicher, polizeilicher Perspektive, aber auch aus der Sicht der Betroffenen selbst erzählt.

Vor allem im Themenbereich Gewalt gegen Frauen ist das wichtig und nicht selbstverständlich. Durch Martens informelle und authentische Erzählweise entstehen lebendige Eindrücke. Für uns Lesende wird das Geschehene nachvollziehbar. Wir begreifen, was in den Frauen vorgeht, wie macht- und ausweglos sie sich fühlen und warum sie sich oft erst so spät Hilfe suchen.

Immer wieder betont Martens, wie er und sein Kollege „Wolle“ sich mit Herzblut einsetzten und oft Engagement zeigten, das weit über ihre Zuständigkeiten hinausging. Der ehemalige Hauptkriminalkommissar weist die Leerstellen in unserem System auf.

Oft genug hängt vom persönlichen Engagement Einzelner ab ist, ob Frauen Hilfe erhalten, denn die langsamen und komplizierten Prozesse verlängern das Leid der Frauen. Es fehlt an offiziellen Stellen, an die Frauen sich wenden können, an denen sie ernst genommen werden und ihnen schnell geholfen wird. Und gerade für von Gewalt Betroffene ist Zeit oft alles.

Auch wenn Martens selbst keine direkten Lösungsansätze anbietet, ist es wichtig, dass aus behördlicher Perspektive auf sie aufmerksam gemacht wird. Aber nicht nur institutionell bedarf das Thema viel mehr Aufmerksamkeit. Auch gesellschaftlich müssen wir uns stärker sensibilisieren, um Barrieren abzubauen und Gefahren erkennen und einordnen zu können. Und so hoffentlich dafür zu sorgen, dass Frauen sich schneller externe Unterstützung und Hilfe suchen.

 

Beim Lesen ergreift uns Fassungslosigkeit, dass solche Fälle Realität und Alltag für viele Frauen unter uns sind. Ärger darüber, wie schwer es Frauen oft gemacht wird, Hilfe in Anspruch zu nehmen und in Sicherheit zu leben. Und ein wenig Mut und Hoffnung, dass mit Engagement und Einsatz an den richtigen Stellen wichtige und notwendige Veränderungen möglich sind.

Das Buch ist empfehlenswert insbesondere für Menschen, die bisher selbst noch nicht mit dem Thema Gewalt gegen Frauen in Berührung gekommen sind. Aber eigentlich ist es empfehlens- und lesenswert für uns alle, um uns in Erinnerung zu rufen, dass diese Art von Gewalt passiert, auch wenn man sie nicht direkt sieht. Dass sie alle treffen kann. Und wie wichtig es ist, sich so früh wie möglich Hilfe zu suchen.

Rita Segato: Femizid

Cover: Rita Segato "Femizid"

Der Frauenkörper als Territorium des Krieges
Unrast Verlag, Münster, 2022, 285 Seiten, 19,80 €

Die brasilianisch-argentinische Anthropologin, Schriftstellerin und Feministin Rita Laura Segato hat mit ihrem neuen Werk eine Schrift veröffentlicht, die mit der Untersuchung von Femiziden auf eine neue systematische Form von Gewalt gegen Frauen aufmerksam macht. Der von ihr als „globaler Krieg gegen Frauen“ beschriebene Zustand äußert sich als eine Form der Gewalt des Patriarchats, das somit seine Macht und Souveränität über den Frauenkörper ausdrückt.
Segato nennt den weiblichen Körper die erste Kolonie der Geschichte und die somit am längsten bestehende politische Struktur der Menschheit. Ihre Ethnografie analysiert die unvergleichlich hohe Femizidrate in der mexikanischen Stadt Ciudad Juaréz als Höhepunkt der weltweiten Morde an Frauen, die häufig nicht aufgeklärt, verfolgt oder als strukturelles Problem gesehen werden. Dagegen müssen wir ankämpfen - durch die die Lenkung der Taten weg vom Privaten hin zur politischen Öffentlichkeit.

Wir müssen uns Fragen stellen: Woher kommen die patriarchalen und familistischen Strukturen und wie können wir sie demontieren? Warum gibt es eine Rückkehr in vielen Ländern dieser Welt zu konservativen Werten, die geprägt sind von Religion, Familie und anti-demokratischen Werten?

Segato drängt darauf, dass wir, als Gesellschaft, verstehen, warum diese Taten geschehen, und dies ändern, indem wir die Hintergründe, „den Ursprung des Übels“ verstehen, anerkennen und wandeln. Die Schriftstellerin fordert daher die Verwendung des Begriffs „Femogenozid“, um das Problem zu benennen und als systematisches begreifen.

Ihr Lösungsvorschlag ist eine kommunitäre und weiblich kodierte Politik, d.h. eine Politik, die auf Verbindung, Austausch und Gegenseitigkeit basiert und bei der die Menschen als Kollektiv zusammenarbeiten. Denn ohne Demontierung des Patriarchats gibt es keinen gesellschaftlichen Wandel und keine Bekämpfung von Femiziden.

Laura Backes und Margherita Bettoni: Alle drei Tage

Cover_ Laura Backes und Margherita Bettoni: Alle drei Tage

Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun können
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021, 208 Seiten

Der Titel des Buches der Journalistinnen Laura Backes und Margherita Bettoni ist nicht zufällig gewählt: Denn alle drei Tage wird laut staatlicher Statistik in Deutschland eine Frau von einem Partner oder Ex-Partner getötet, weil sie eine Frau ist. Diesen Tötungen liegen patriarchale Macht- und Gedankenmuster zugrunde, die sich durch alle gesellschaftlichen Schichten ziehen, legen Backes und Bettoni in ihrem Buch dar.

In sieben Kapiteln zeigen die Autorinnen verschiedene Aspekte auf, die im Zusammenhang mit Femiziden stehen. Unter anderem geht es hier um Besitzansprüche, die Rechtslage zur gezielten Tötung von Frauen, Präventionsarbeit und gängige Muster bei Femiziden. Zwischen den theoretischen Analysen finden sich im Buch verteilt Erfahrungsberichte von den Tätern selbst und von Frauen, die einen Tötungsversuch überlebt haben. Diese eindrücklichen Berichte vergegenwärtigen den Lesenden immer wieder, dass hinter den Zahlen und Analysen menschliche Schicksale stehen.

Das Buch bietet eine gute Grundlage, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und das Phänomen „Femizid“ in Deutschland besser zu verstehen. Zusätzlich wird in einem Kapitel über Deutschland hinausgeschaut und ein Vergleich zu anderen Ländern gezogen. Hier zeigen die Autorinnen, wie unterschiedlich manche Länder den Kampf gegen Femizide, der fast überall nötig ist, angehen. Abschließend stellen die Autorinnen Forderungen dazu auf, was in Deutschland passieren muss, um der traurigen Statistik, die dem Buchtitel zugrunde liegt, entgegenzuwirken.

Aktuell bestehen aber sogar am erschütternden „alle drei Tage“ berechtigte Zweifel: Die staatlichen Erhebungen, auf denen die Annahme basiert, dass alle drei Tage ein Femizid begangen werde, sind lückenhaft. Die Bundesregierung verwendet den Begriff „Femizide“ nicht offiziell und staatliche Daten werden nur zu Tötungen in Partnerschaften gesammelt. Femizide, die von Fremden oder von anderen Familienmitgliedern als dem Partner begangen werden, gelangen nicht in die Statistik. Würde man jedoch alle Femizide hinzuzählen, die außerhalb von Partnerschaften geschehen, wie es nicht-staatliche Stellen wie das Femicide Observation Center Germany tun, müsste das Buch „Alle zwei Tage“ heißen. Dass schon auf dem Titel ein Teil des Phänomens Femizide ausgeblendet wird, ist bedauerlich. Das Buch aber überzeugt trotzdem durch die Vielfalt der Aspekte zur Thematik Femizide, die es darstellt.

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Doris Wind: Eine unfassbare Sehnsucht

Autobiographische Erzählung
Christel Göttert Verlag Rüsselsheim, 2021. 221 Seiten, 17,- €

„Die böse Hexe meiner Kindheit hieß ‚mein Großvater‘ und lag nicht unter meinem Bett, sondern ich in seinem.“
Damit ist alles gesagt, was die Lebensqualität einer Frau zerstört – wenn sie nicht die Kraft und die Hilfe findet, sich von ihrem Trauma zu erlösen.
Während ich das Buch von Doris Wind lese, erfahre ich, dass ich kaum etwas über die Qualität eines Traumas weiß. Wie fühlt es sich an, wenn ein Kind völlig gelähmt in Gedanken und Bewegungen, darüber hinaus von der Mutter geschlagen, unfähig zur Gegenwehr zum Spielball erwachsener Libidinisten wird, wenn die zaghaften Versuche sich im Kindergarten der Abholung durch den Großvater zu entziehen als ungezogen getadelt oder in späteren Jahren von der Ungeheuerlichkeit dieser Untaten zu sprechen als bösartige Unterstellung - so unisono die Mutter und die Schwester - auf sie zurückprallt und sie nochmals schändet.

An die ersten zehn Jahre ihres Lebens hat Doris keine Erinnerung. Das wird – trotz psychologischer Gutachten - vom Gericht gegen sie verwendet. Sie wollte eine Entschädigung aus der öffentlichen Hand erwirken, die ihr nach §1 Absatz 1 Satz 1 OEG zustehen würde. Sie erhoffte sich dadurch einen finanziellen Ausgleich für ihren jahrelangen Verdienstausfall und ein wenig Absicherung für die Zukunft. Geborgenheit musste sie als Kind ganz und gar und das Gefühl von Sicherheit nun als Erwachsene immer noch entbehren.

Aber dann: „Opfer zu bleiben ist keine Perspektive für mich“. Mit diesem Grundsatz schafft es Doris Wind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Sie greift zum Stift, sie schreibt. Sie kehrt ihr Innerstes nach außen und teilt sich mit. Davon können alle profitieren: die Traumatisierten und die Nicht-Traumatisierten. Letztere – und dazu zähle ich auch – gewinnen einen Einblick, wie es sich anfühlt, wenn ein Weg zur Arbeit tagtäglich zu einer Mutprobe wird, weil die Angststörung jeden Moment den Boden unter den Füßen wegreißen und einen Abgrund auftun kann und weil jeder Augenblick die Gefahr in sich birgt, orientierungslos geworden wieder zum Spielball äußerer Mächte zu werden. Wie können wir ermessen, welcher Kraftanstrengung es bedarf, einen ersten Weg, einen Spaziergang an der Elbe, ohne Begleitung zu wagen? Was wissen wir von dem Damoklesschwert, das offenbar lebenslänglich über der Traumatisierten schwebt, das soeben mühsam Schritt für Schritt gewonnene Terrain plötzlich wieder zu verlieren? Wenn wir das erkennen, können wir nicht umhin, Traumatisierten voll Bewunderung zu begegnen, wenn sie es geschafft haben, ihr Schicksal nicht nur zu ertragen, sondern auch Wege zu gehen, deren Kraftaufwand einer Gipfelbesteigung gleichkommt.
Traumatisierte erfahren durch die Geschichte von Doris Wind, welche Schritte möglich sind -  durch Freundschaften, durch Therapie, durch Zugehörigkeitsgefühle zu Gruppen, durch stetiges Weitermachen, durch Neuanfänge nach Abstürzen, kurz durch die Entschlossenheit, sich selbst nicht aufzugeben – trotz alledem ein Leben voll Liebe, voll Schönheit, voll Erfüllung, voll Selbstachtung zu finden.

„Ich habe keine Angst mehr, irgendwo nicht hinzukommen, und checke nicht mehr vorab alle Wege in der Planung. Dieses Gehen ist ein ganz neues Freiheitsgefühl.“ Dieser Satz ist ein Sieg über die Gewalt – individuell errungen, aber ein Ziel für alle Geschädigten. „Ich weiß nicht, ob … das von Dauer ist, aber jetzt ist es so“, endet Doris Wind ihre Erzählung. Und das ist auch ein Grundsatz, den sie uns allen nahelegt: nämlich im Hier und Jetzt zu leben und jeden Tag und jede Minute als eine Herausforderung anzunehmen.

TDF-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Godula Kosack Leipzig im Dezember 2021

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