Jodi Bieber
Real Beauty
Bildband
(Deutsch/Englisch)
Die Modeindustrie sowie die Medien verbreiten seit Jahrzehnten ein weibliches Schönheitsideal, das der Realität ferner nicht sein könnte: schlank und makellos. Auf einer Reise von London nach Paris begegnet Jodi Bieber einem jungen Fotomodel. Sie erzählt Jodi wie exzessiv Photoshop eingesetzt wird, um Aufnahmen zu „korrigieren“, das Ergebnis hat danach nur noch wenig mit der Realität gemein. Die Modeindustrie gibt ein Ideal vor, das ohne Retusche schlichtweg nicht erreichbar ist. Das beeinflusst die Körperwahrnehmung von Mädchen und Frauen.
In einem BBC-Radiobeitrag den Jodi Bieber hörte, wurde berichtet, dass in Südafrika die Zahl magersüchtiger schwarzer Frauen zugenommen hat. Nicht mehr fülligere Frauenkörper sind dort en vogue, sondern dünne Körper, nach westlichem Vorbild. Dieser Radiobeitrag ist es schließlich, der die Künstlerin dazu bewegt das Fotoprojekt „Real Beauty“ umzusetzen. Damit möchte sie einen Kontrapunkt setzen zu dem, was Medien als „schön“ deklarieren. Deshalb wurde auch ausdrücklich kein Bild durch Photoshop verändert. Der Bildband zeigt Frauen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten Südafrikas so wie sie sind, mit mehr oder weniger Kilos, jüngere und ältere Körper, mit viel oder wenig Cellulite.
Abgelichtet werden die Frauen in ihren eigenen Wohnungen. Ihre Pose können alle frei wählen, dadurch will die Fotografin die Persönlichkeit und die Fantasie der Frauen in das Bild projizieren. Schönheit ist vielfältig und wird in den verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich interpretiert: das ist die Botschaft, die Jodie Bieber transportieren will. Weg von stilisierten, puppenhaften Bildern hin zu echten, ehrlichen Darstellungen, dahin soll die gesellschaftliche Entwicklung gehen und dieser Bildband ist ein Anstoß dazu.
Jodi Biebers Arbeit trägt damit zum bewussten Wahrnehmen eines realen Körperempfindens bei, welches viele Mädchen und Frauen im Zuge des vorherrschenden unechten Schönheitsideals verloren haben.
Besprechung: Sophie Schuster
Pagina Verlag, Goch 2014. 107 Seiten. 34,90 €
Ntailan Lolkoki
Flügel für den Schmetterling
Der Tag an dem mein Leben neu begann
Die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation oder abgekürzt FGM) ist im subsaharischen Afrika immer noch weit verbreitet. Auch Ntailan Lolkoki erleidet dieses menschenrechtsverletzende Ritual in ihrer Kindheit in Kenya. Ab diesem Tag begleitet sie ein Gefühl der Taubheit und ihr scheint als hätte sie ein Stück ihrer Seele verloren. Als ihre Familie immer weiter zerbricht findet sie sich jung und perspektivlos inmitten Nairobi wieder. Bald trifft sie auf den englischen Soldaten Lofty, der sich in sie verliebt, und folgt ihm kurz später nach Großbritannien. Dies soll der Beginn einer turbulenten Reise sein, die sie quer durch England, Deutschland und immer wieder zurück nach Kenya führen wird.
Es dauert Jahre bis Ntailan offen über ihre Beschneidung sprechen kann. Dass dies eine traumatische Erfahrung war, kann sie erst langsam realisieren. Der Auslöser ist letztendlich die Begegnung in London mit Efua Dorkenoo, der Gründerin der Organisation FORWARD, die sich auch auf FGM spezialisiert hat. Durch die Gespräche mit ihr kann Ntailan das erste Mal verstehen, was ihr als Kind widerfahren ist und beginnt nun ihr Trauma zu erkennen und langsam zu verarbeiten. Trotzdem soll es noch lange dauern, bis sie ihre sexuelle Selbstbestimmung durch eine Rückoperation in Deutschland wiedererlangt. Der Weg bis dahin gestaltet sich voller Erkenntnisse, Emotionen und turbulenter Erfahrungen: So arbeitet sie zum Beispiel im Berlin vor der Wende als Model, als christliche Missionarin in Kenya und studiert in London Sozialarbeit.
Die Lesenden können Ntailan gespannt bei ihrer Reise zur Selbstfindung begleiten. Dabei sind ihr Mut, ihre Ambitionen und ihre Entschiedenheit nicht nachzulassen, sondern jedes Mal aufs neue Kraft zu schöpfen, immer wieder beeindruckend. Obwohl sich das bedrückende Thema FGM wie ein roter Faden durch alle Kapitel ihres Lebens zieht, strahlt Ntailans Geschichte Hoffnung und Inspiration aus. Ihre Courage öffentlich über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen und mit dem Tabu ihres Herkunftslandes zu brechen, führt uns einen Schritt näher hin zu einer Welt in der kein Mädchen mehr FGM durchleben muss.
Besprechung: Clara Hoffmann
Knaur Verlag, München 2017. 272 Seiten. 16,99 €
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5% des Einkaufspreises gehen an TERRE DES FEMMES
Isabel Rohner, Rebecca Beerheide
100 Jahre Frauenwahlrecht
Ziel erreicht... und weiter?
Heute ist das aktive und passive Wahlrecht in Deutschland für viele Frauen eine Selbstverständlichkeit. Vor allem der jüngeren Generation scheint es, obwohl die Einführung erst relativ kurz zurückliegt, fundamental und unangreifbar. Zum hundertjährigen Jubiläum fragen Isabel Rohner und Rebecca Beerheide, welche Bedeutung das Frauenwahlrecht heute trägt und untersuchen dabei die gegenwärtige Situation und Perspektiven der Frauenrechte.
In einer Sammlung aus Beiträgen berichten 24 führende Frauen, unter anderem aus der Wirtschaft, der Politik, dem Journalismus und der Künste, über die Bedeutung des hundertjährigen Jubiläums für sie. Sie stellen Kämpferinnen des Feminismus in Deutschland und Europa vor und setzen sich mit Herausforderungen, die die Gleichstellungspolitik heute erfährt, auseinander.
Die Autorinnen liefern ganz verschiedenartige Beiträge. Anke Gimbal und Ramona Pisal vom Deutschen Juristinnenbund inspizieren beispielsweise die politische Repräsentation von Frauen und wie bestimmte Wahlsysteme Parität in politischen Organen beeinflussen können. Die Literaturwissenschaftlerin Isabel Rohner erzählt wie das Kommunalwahlrecht für Frauen in einem Kanton der Schweiz nach langem Kampf erst 1990 eingeführt wurde. Sabine Lautenschläger, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank (EZB), ermutigt Frauen auch in der Wirtschaft auf ihre Rechte zu bestehen und strukturelle Probleme nicht zu individualisieren. Christa Stolle, Geschäftsführerin der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES, kritisiert das immer noch erhebliche Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt weltweit.
Die weiteren Interviews und Essays reichen von historischen Überblicken zum Kampf für mehr Frauenrechte zu Appellen an die junge Generation von Frauen. Dabei erhält man auch immer wieder Einblick in die persönlichen Erlebnisse sowie Hindernisse im Leben der Autorinnen. Es wird klar, wie jung viele Meilensteine der Frauenrechte erst sind und, dass diese stetig verteidigt und ausgeweitet werden müssen. Wiederaufkeimende antifeministische Strömungen im politisch rechten Spektrum lassen erkennen, dass misogyne Denkmuster und veraltete Rollenbilder noch längst nicht in allen Köpfen überwunden sind. Die Autorinnen verdeutlichen, dass Frauenrechte nicht selbstverständlich sind, keine natürliche Auflösung früherer Ungerechtigkeiten, sondern von starken Frauen hart erkämpft wurden. Dabei blicken sie stolz auf das Erreichte zurück und zeigen wie der Weg zu mehr Gleichstellung gestaltet werden kann: solidarisch, selbstsicher und vorwärtsgewandt.
Besprechung: Clara Hoffmann
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2017. 199 Seiten. 18,00€
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Nora Bossong
Rotlicht
Nora Bossong berichtet in ihrem Buch von Erfahrungen und Begegnungen in der Sphäre der käuflichen Sex- und Erotikleistungen. Sie begibt sich zum Beispiel in Table-Dance Bars, auf Sexmessen und in Swingerclubs, um die dortigen Geschlechterverhältnisse zu hinterfragen. Das Geschäft mit der Prostitution wird ebenfalls wesentlicher Gegenstand ihrer Erlebnisse.
Dabei beweist Nora Bossong Sensibiliät im Umgang mit den Themen und bezieht in allen Bereichen breite Spektren von Meinungen und Positionen mit ein. Vor allem bei der Prostitution, hilft sie den Lesenden kritisch einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Dazu interviewt sie zum Beispiel Bina und Angelina, zwei ungarische Prostituierte von der Kurfürstenstraße in Berlin. Sie berichten von weit verbreiteter Gewalt und Erpressung, scheinen nun aber in einem selbstbestimmteren Umfeld zu sein. Sie telefoniert auch mit Huschke Mau, einer Aussteigerin, die sich aufgrund ihrer Erfahrungen mittlerweile aktiv für ein Verbot der Prostitution einsetzt und deshalb offen bedroht wird.
Die Verwobenheit von Migration, Kapitalismus und Prostitution, die im europäischen Kontext vor allem zur Ausbeutung von Frauen aus Osteuropa führt, spielt eine zentrale Rolle. Ausweg- und Perspektivlosigkeit enden oft in prekären Arbeitsverhältnissen und Gewalt. Dass Machtkonstellationen und die patriarchale Gesellschaftsordnung bei den Dynamiken in der Prostitution und Erotikbranche eine vorherrschende Rolle spielen wird allzu deutlich.
Nora Bossong versieht ihre eigenen Gedanken mit Aspekten aus Literatur und Filmen und nimmt verschiedene feministische Diskurse in ihre Ausführungen mit auf. Außerdem lockern Konversationen, Empfindungen und Reflektion die Atmosphäre und ermöglichen auch denjenigen Lesenden, die vor solchen Themen eher zurückschrecken, einen leichten Einstieg.
Letztlich gibt nicht nur das stark kritisierte Prostituiertenschutzgesetz, das zum 1. Juli 2017 eintritt, wieder Anlass, sich selbst zu informieren und Stellung zu beziehen. Auch wenn sich Bossong nicht für oder gegen ein Verbot der Prostitution ausspricht, wird klar: Der gesellschaftliche Umgang mit käuflichem Sex muss dringend neu diskutiert werden.
Besprechung: Clara Hoffmann
Carl Hanser Verlag, München 2017. 240 Seiten. 20,00€
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Asli Erdoğan
Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch
Essays
In ihrer Sammlung von Essays illustriert und kritisiert die frühere Physikerin und jetzige Schriftstellerin Asli Erdoğan die derzeitigen Geschehnisse in der Türkei, allen voran den Verlust grundsätzlicher Freiheiten. Dabei geht es vor allem um die Situation der Kurden, Frauen sowie der freidenkenden Intellektuellen und WissenschaftlerInnen, deren Rechte durch die Regierung Recep Tayyip Erdoğans (AKP) immer weiter eingeschränkt und missachtet werden.
Die Schauplätze der Essays wechseln stetig und reichen von den Straßen in Mecidiyeköy, einem Stadtteil von Istanbul, während der Nacht des Putsches bis hin zum einzigen Zeitungsladen in Genf, der die türkische Oppositionszeitung verkauft, in der auch Asli Erdoğan veröffentlicht. Wegen diesen Publikationen soll sie später aufgrund des Verdachts auf Terrorpropaganda angeklagt werden.
Poetisch arbeitet sie traumatische Erfahrungen von Minderheiten und Benachteiligten auf. Dabei zieht sie uns hinein in die erdrückende Realität von Randgruppen unter dem Regime der AKP. Erdoğans Essays sind ein Appell für Menschenrechte einzustehen, eigene Werte nicht aufzugeben und für Freiheit zu kämpfen- auch im Angesicht eines repressiven Staates, dem man scheinbar hilflos ausgeliefert ist.
Die kurzen Texte sind eindringlich, präzise und bergen Material für viele wertvolle Zitate, die sich problemlos auch auf andere autoritäre Herrschaften anwenden lassen. Um die heutige Relevanz und Bedeutung von Asli Erdoğans Literatur verstehen zu können, führt uns Grünen-Politiker Cem Özdemir am Anfang des Buches in die jüngste Geschichte der Türkei ein. Deshalb ist das Buch auch bei wenig Hintergrundwissen über der politischen Lage in der Türkei außerordentlich lesenswert.
Asli Erdoğan selbst wurde im Dezember 2016 verhaftet, kam nach vier Monaten Untersuchungshaft wieder frei und befindet sich seit März 2017 im Prozess. Für angebliche Terrorarbeit und Angriffe auf den türkischen Staat droht ihr eine lebenslange Haftstrafe. Ihre journalistische und literarische Arbeit wird in der Türkei stark zensiert. In Europa hingegen trifft sie auf breite Unterstützung und Wertschätzung. Das türkische Original des Buches konnte noch nicht veröffentlicht werden.
Besprechung: Clara Hoffmann
Albrecht Knaus Verlag, München 2017. 192 Seiten. 17,99€
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Susanne Heynen, Frauke Zahradnik
Innerfamiliäre Tötungsdelikte im Zusammenhang mit Beziehungskonflikten, Trennung beziehungsweise Scheidung
Konsequenzen für die Jugendhilfe
2015 waren über 104.000 Frauen von Partnerschaftsgewalt betroffen. Trennung, Scheidung oder eine Destabilisierung der Beziehung sind dabei oft Ausgangspunkt für Gewalt mit Todesfolge. Wenn es zu einer solchen Tat kommt, sind in 70-80% der Fälle die Frauen das Opfer, der (Ex)Partner zumeist der Täter. Kinder erleben das Geschehen in vielen Fällen mit oder befinden sich währenddessen in unmittelbarer Nähe und werden stark traumatisiert. Zudem verlieren sie meistens zwei ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Aber häufig mangelt es nach der Tat an Unterstützung und Hilfsangeboten, die Heranwachsende in ein sicheres Umfeld führen und ihr psychisches Wohl schützen. Dabei ist gerade dies nötig, da nur 15% der Kinder nach solchen Taten psychologisch unbelastet bleiben.
Susanne Heyken und Fraue Zahradnik schließen mit diesem Buch eine große Lücke in der derzeitigen Fachliteratur und leiten aus einer qualitativen Studie mit dem Jugendamt Karlsruhe Handlungsempfehlungen ab, um Kinder, die von innerfamiliären Tötungsdelikten betroffen sind, zu schützen.
Die Interviews mit 14 Betroffenen sollen Einblick in Erlebnisse, Konflikte und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen während und nach solchen Krisensituationen aufzeigen. Diese sind dabei vor allem aufschlussreich, da sie die Vielschichtigkeit und Komplexität der Zustände in den betroffenen Familien anschaulich darstellen.
Interviewausschnitte, Zusammenfassungen und Zwischenfazite führen die Lesenden klar und verständlich durch die verschiedenen Ebenen, auf denen sich nach der Tötung eines Familienmitglieds Hilfsbedarf auftut und Konflikte entstehen können. Dabei werden die Familienverhältnisse vor der Tat, die Akutsituation und die Aufnahme in neue Familien nach der Tat beleuchtet. Der Fokus fällt aber auch auf die Handlungsmöglichkeiten von öffentlichen Trägern wie dem Jugendamt, der Gestaltung des Kontakts zu dem Täter und den Geschwistern sowie der psychologischen Versorgung der Betroffenen.
Genauso verschieden wie die behandelten Themen sind auch die Institutionen und Personen an die sich das Buch richtet: Dazu zählen Kriseninterventionsdienste, der Gesetzgeber, Pflegefamilien und Verwandte, öffentliche Betreuungsangebote und die Rechtsprechung. Durch die klaren Formulierungen und gelungene Strukturierung ist das Buch aber genauso für Lesende ohne Hintergrund in Psychologie und Sozialer Arbeit geeignet.
Besprechung: Clara Hoffmann
Beltz Juventa, Weinheim 2017. 136 Seiten. 19,95€
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5% des Einkaufspreises gehen an TERRE DES FEMMES
Simone Schmollack
Und er wird es wieder tun
Gewalt in der Partnerschaft
„Mir passiert so etwas nicht.“ Jede vierte Frau erlebt häusliche Gewalt oder Partnerschaftsgewalt, darüber geredet wird jedoch kaum. Mit ihrem Buch versucht Simone Schmollack dieses Schweigen zu brechen und mögliche Auswege aus der Gewaltspirale aufzuzeigen.
In erster Linie sind die Frauen die Leidtragenden, aber auch Männer und Kinder erfahren Gewalt im eigenen Zuhause, egal zu welcher sozialen Gruppe sie gehören. In ihrer vielschichtigen Auseinandersetzung weist die Autorin auf einen substantiellen Aspekt hin: Häusliche Gewalt ist kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem.
Dabei thematisiert sie auch strukturelle Probleme im Hilfesystem, wie zum Beispiel das Strafrecht bei sexueller Gewalt, den Platzmangel in Frauenhäusern und das Aufenthaltsrecht im Zusammenhang mit Zwangsehen.
Ausführlich legt Schmollack emotionale, wie auch rechtliche Barrieren dar, mit denen Betroffene nach der Tat konfrontiert werden. Besonders Frauen leiden an Schuld -und Schamgefühlen und empfinden ihre Situation oftmals als aussichtslos. Die Gründe dieser Barrieren werden in unterschiedlichen Beiträgen dargelegt und erklärt. Die Journalistin stützt sich in ihrem Buch auf Interviews mit Betroffenen und Fachleuten, Studien und Mediendiskurse.
Darüber hinaus will die Autorin Betroffene dazu ermutigen sich Unterstützung zu holen. Sie fordert aber auch die Menschen aus deren unmittelbarem Umfeld auf, sich mit ihnen solidarisch zu zeigen.
Der eigenen gewaltgeladenen Partnerschaft zu entkommen ist keinesfalls leicht, aber machbar, vor allem, wenn man nicht alleine ist. Am Ende des Buches steht die Botschaft: Ein Leben danach ist möglich.
Besprechung: Thao Ho
Westend Verlag GmbH, Frankfurt/ Main 2017. 239 Seiten. 18,00 €.
Helke Sander
Die Entstehung der Geschlechterhierarchie
Als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts
Lebten schon die Steinzeitmenschen im Patriarchat?
Diese Frage beantwortet uns Helke Sander klar mit „Nein!“. Doch wie und wann entwickelte sich dann die Vorherrschaftsstellung des Mannes? Und weshalb werden zumeist nur die letzten 2000-3000 Jahre berücksichtigt, wenn es darum geht traditionelle Geschlechterrollen „natürlich“ zu rechtfertigen?
Helke Sander bietet in diesem Buch eine klare, unterhaltsame und persönliche Darstellung von der Entwicklung der Geschlechterhierarchie von bis vor 4,4 Millionen Jahren hin zum Anfang unserer Zeitrechnung im Jahre 0. Dabei zeigt sie, dass die Geschlechterhierachie, wie sie uns bekannt ist, nur als ein Intermezzo in einer komplexen und facettenreichen Geschichte betrachtet werden kann. Der übliche Fokus auf das männliche Geschlecht, wenn es um Erfindungen und die Triebkräfte der menschlichen Entwicklung geht, ist deshalb vor allem unangemessen, da die prähistorischen Menschen viel gleichgestellter lebten als uns meistens suggeriert wird.
Sie stellt die These auf, dass vor allem Frauen für die ersten Erfindungen und Entwicklungen der Menschheit verantwortlich waren. Denn vor allem sie profitierten von der sozialen Organisation von Gruppen und mussten durch schwierige Herausforderungen wie die Periode, Geburt und lange Stillzeit der Kinder neue Überlebens- und Kommunikationstechniken entwickeln. Sie zeigt neue Interpretationsmöglichkeiten traditionell zumeist androzentrisch konnotierter Symbole, Geschichten und Zustände auf und regt uns Lesende an, die Perspektive zu wechseln und unsere Auffassungen in neue, weitere Kontexte zu setzen. Dabei beleuchtet sie Kernfaktoren in der Entwicklung der Menschheit, wie Menstruation, Schwangerschaft, Feuer, Jagd, Religion und Viehzucht.
Sie kontrastiert anschaulich wie Symbole für die Weiblichkeit in den letzten zwei Jahrtausenden negative Besetzungen erhalten haben. Beispielsweise gilt die Anzahl der Zyklen im Jahr, die Zahl 13, heute als Unglückszahl, während ihr in prähistorischen Zeiten noch heilig-mystische Eigenschaften zugeschrieben wurden. Doch was sind die Gründe dafür? Diese und viele weitere Fragen versucht Helke Sander mithilfe von Erkenntnissen aus der Archäologie, Religionswissenschaft und Biologie zu beantworten.
Griffig, amüsant aber auch kritisch blickt sie dabei auch auf ihre eigene Zeit als Frauenaktivistin zurück. Besonders interessant für junge Lesende sind die schwierigen Herausforderungen, die sich Helke Sander in den 60ern als Mutter stellen musste. Dabei lenkt sie den Blick auf viele Leistungen, die die junge Generation schon als selbstverständlich ansieht, wie z. B. Kindergärten, die damals jedoch von Frauen hart erkämpft werden mussten. Mit Anekdoten aus ihrem Alltag sowie ihrer Zeit als Regisseurin und als Bewohnerin einer der ersten Kommunen in Deutschland gelingt es ihr spielerisch Verbindungen zwischen Steinzeit und Gegenwart herzustellen und nimmt uns mit auf eine spannende Reise vom Urzeitmenschen bis zum Homo Sapiens.
Besprechung: Clara Hoffmann
Verlag Zukunft und Gesellschaft, Berlin 2017. 216 Seiten. 26,90€
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5% des Einkaufspreises gehen an TERRE DES FEMMES
Zana Ramadani
Die verschleierte Gefahr
Die Macht der muslimischen Mütter und der Toleranzwahn der Deutschen
Bereits aus dem Titel ist ablesbar: Zana Ramadani, Mitbegründerin von Femen, nimmt kein Blatt vor den Mund. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Islam und der deutschen Gesellschaft setzt sie auf klare Botschaften: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland, Muslime gehören zu Deutschland – aber nur, wenn sie sich dieser Gesellschaft anpassen.“
Eine besondere Rolle misst sie den Müttern zu. Sie sind es, die die konservativen, frauenfeindlichen Werte innerhalb der muslimischen Familien aufrechterhalten: „Die muslimischen Frauen herrschen in der Familie. Ihre Töchter erziehen sie zu willenlosen Lemmingen, ihre Söhne zu verwöhnten Machos.“ Hier sieht sie schon den Keim für zukünftige Terrorakte gesetzt: „Und weil diese Hätschel-Machos damit im Leben scheitern, (erziehen sie sie) zu den nächsten Radikalen.“
Ramadani nimmt aber auch die Deutschen in die Pflicht. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung können wir nur aufrechterhalten, wenn wir uns vor den Gefahren, die der politische Islam in sich birgt, nicht verschließen. Wir dürfen dessen rückwärtsgewandten Vorstellungen und die fortbestehende Diskriminierung der muslimischen Frauen nicht mehr als kulturelle Eigenart verharmlosen.
Die Autorin kann aus eigenen Erfahrungen schöpfen. Die beengenden Regeln patriarchaler Familienbande hat sie selbst erlebt.
Als Siebenjährige kam sie mit ihrer Familien aus Mazedonien nach Deutschland. Mit 18 floh sie nach Konflikten mit den muslimisch-konservativen Werten der Familie ins Frauenhaus.
Die gelernte Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte studierte Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie. Mit Reportagen, Dokumentarfilmen, Workshops und Vorträgen setzt sie sich mit Hingabe für Menschen- und Frauenrechte ein. Ramadani ist Mitfrau bei TERRE DES FEMMES.
Europaverlag, Berlin – München – Zürich – Wien, 2017. 262 Seiten. 19,80 €
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5% des Einkaufspreises gehen an TERRE DES FEMMES
Melissa Fleming
Doaa – Meine Hoffnung trug mich übers Meer
Ein außergewöhnliches Schicksal, erzählt von der Sprecherin der UN-Flüchtlingshilfe
Als junges Mädchen ist Doaa schüchtern, aber sie hat ihren eigenen Kopf: Ihre Zukunft sieht sie nicht in einer baldigen Hochzeit, sie will unbedingt eine Ausbildung abschließen.
Als der „Arabische Frühling“ auch nach Syrien überschwappt, ist es für die inzwischen 16-jährige eine Herzensangelegenheit an den Demonstrationen teilzunehmen. Oft auch gegen den Willen ihres Vaters, der schlimme Geschichten über die Behandlung junger Frauen durch die Polizei gehört hat. Die Unruhen nehmen zu, die staatlichen Reaktionen immer drastischer. Im März 2011 spricht Präsiden Baschar_al-Assad von den Demonstrierenden als potenzielle TerroristInnen, sieht eine ausländische Verschwörung am Werk. Das Einschreiten der Armee wird immer drakonischer, wer öffentlich protestiert, begibt sich in Lebensgefahr. Bald rollen Panzer in Doaas Heimatstadt ein, Soldaten durchkämmen täglich ihr Haus. Die Familie verliert ihre letzten Lebensgrundlagen und bricht mit schwerem Herzen über Jordanien nach Ägypten auf. Hier werden sie noch warmherzig empfangen. Präsident Mursi und die hinter ihm stehende Muslimbrüderschaft sind den Syrern gegenüber wohlgesonnen. Mit der Absetzung Mursis im Juli 2011 durch das Militär kippt auch die Stimmung gegen die aus Syrien Geflohenen. Oft ins Feindselige. Auch hier werden die Lebensbedingungen zunehmend unwirtlich.
Doaa und ihr Verlobter Bassem werden hier keine Familie gründen können. Ein Zurück in ihre zur Unkenntlichkeit zerstörte Heimatstadt gibt es für Sie erst recht nicht. Den einzigen Lichtblick scheint Europa zu bieten. So begibt sich das Paar in die Hände von zwielichtigen Schleppern. Bevor sie überhaupt ein Schiff besteigen können, geraten sie immer wieder in die Fänge der Polizei und landen im Gefängnis. Nach etlichen Versuchen sitzen sie eingezwängt auf einem rostigen Kahn. Vier mal müssen sie auf offenem Meer von einer Rostlaube zur nächsten wechseln.
Die zermürbten Passagiere wähnen sich fast am Ziel – „noch 19 Stunden bis Italien!“ – und schöpfen Hoffnung, als plötzlich Piraten auftauchen und ihr fragiles Gefährt ungerührt versenken. Doaa, die nicht schwimmen kann, wird von Bassem in einen Reifen gerettet. An ihm kann auch er sich festhalten bis ihm die Kräfte schwinden. Doaa würde ihm gerne folgen, aber ihr wurden zwei kleine Mädchen anvertraut, von Eltern, die sich aufgegeben mussten. Mit den Kleinen in ihren Armen, sieht sie sich von immer mehr Toten umgeben. Nach vier Tagen wird sie von einem Schiff gerettet werden. Auch eines der ihr anvertrauten Mädchen wird überleben. Nur eine Handvoll von den 500 Geflüchteten.
„Doaa ist für mich das Gesicht der Flüchtlinge„ so Melissa Fleming, Sprecherin der UN-Flüchtlingshilfe, die Doaas Geschichte aufgeschrieben hat.
Tatsächlich öffnet sie durch ihre genaue und einfühlsame Erzählung uns, LeserInnen die Augen für die Einzelschicksale der Geflüchteten. Durch die minutiöse Schilderung der verhängnisvollen Odyssee des Paares und ihrer Mitpassagiere deckt Fleming auch das unbarmherzige und menschenfeindliche System der Schlepper auf, von dem Polizisten, Grenzbeamte oder Geschäftsleute anstandslos mit profitieren.
Knaur Verlag München, 2017. 283 Seiten. 19,99 €
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5% des Einkaufspreises gehen an TERRE DES FEMMES
Anna Kaminsky
Frauen in der DDR
Das Prinzip der Gleichberechtigung sei für die Frauen der DDR bereits Realität gewesen, ganz anders als für die Frauen im Westen. Diese Meinung über das Leben ostdeutscher Frauen hält sich hartnäckig. Doch Anna Kaminsky zeichnet in ihrem Buch ein anderes Bild weiblicher Lebensrealitäten in der DDR.
Gleichberechtigung hieß dort vor allem, dass die Frauen, genau wie die Männer, mehrheitlich Vollzeit arbeiteten. Das Ergreifen von Männerberufen war erwünscht.
Dies befreite die Frauen jedoch nicht von den notwendigen Aufgaben der Alltagsorganisation, wie die Bewältigung von Hausarbeit und die Versorgung der Kinder. Die Leitbilder von Politik und Gesellschaft sahen vor, dass sich alle Lebensbereiche der Arbeit unterzuordnen hatten. An Frauen wurde dementsprechend der Anspruch gestellt, einer Erwerbstätigkeit in Vollzeit nachzugehen und gleichzeitig mehrere Kinder großzuziehen. Die Gleichberechtigung scheiterte deshalb oft schon an den Belastungen des Alltags.
Das Argument, in der DDR habe es doch die Möglichkeit gegeben, Kinder in Krippen und Kindergärten unterzubringen, entkräftet die Autorin durch Beispiele. So führt sie z.B. die langen Wegezeiten zu den Kinderbetreuungsplätzen an, macht darauf aufmerksam, dass nach dem Abholen der Kinder auch noch Einkäufe erledigt werden mussten, die aufgrund der Mangelwirtschaft oft zeitaufwändig waren. So blieb die Doppelbelastung der Frauen, trotz der Möglichkeit die Kinder unterzubringen, hoch.
Insgesamt wurde die Frage der Gleichberechtigung in der DDR auf die Aspekte der Frauenarbeit reduziert. Gleichberechtigte Teilhabe an Politik und Gesellschaft waren niemals Teil des Konzepts. Dieses war ohnehin paternalistisch, weil es Männer waren, die über das Wohl von Frauen entschieden. Nur wenigen Frauen gelang es höhere berufliche Positionen in den Bereichen Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft zu erreichen.
Anna Kaminsky schreibt sachlich und verständlich über das Leben von Frauen in der DDR und greift dabei viele unterschiedliche Aspekte auf. Diese illustriert sie mit Fotos und Auszügen aus Dokumenten der Zeit. So regt sie die LeserInnen dazu an, sich eingehender mit dem Leben ostdeutscher Frauen zu beschäftigen.
Besprechung Johanna Priebs
Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 317 Seiten. 25 €
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5% des Einkaufspreises gehen an TERRE DES FEMMES
Elisabeth Erdtmann
Momotombo
„Was schon? Sieben Jahre Revolution und das Verhalten der Männer hat sich kaum verändert. Worauf sollen wir warten? Wir haben begonnen, uns zu wehren, indem wir uns organisieren.“
So erlebt Julia die Situation der Frauen in Nicaragua. Sie ist der Einladung eines nicaraguanischen Frauenverbandes gefolgt und verlässt Deutschland, um den Aufbau einer Kooperative in einem kleinen Dorf zu unterstützen. Das Land befindet sich mitten in einer gesellschaftlichen Umwälzung, nachdem die links orientiere, vorherige Guerillaorganisation FSLN den Präsidenten 1979 gestürzt und die Herrschaft übernommen hat.
Schon kurz nach ihrer Ankunft wird Julia hineingerissen in einen Strudel aus Gewalt, Armut und Chaos, dem die Hoffnung und Träume der nicaraguanischen Bevölkerung entgegenstehen. Die Konterrevolution, die von den USA finanziert wird, um kommunistische Bewegungen zu ersticken, bringt noch mehr Chaos ins Land.
Die aufgeklärte Feministin und 68er-Aktivisitin, deren Sichtweise von westlicher Naivität geprägt ist, findet zunächst nur schwer Zugang zur komplexen Lage in Nicaragua. Aber durch Begegnungen und Unterhaltungen mit der nicaraguanischen Bevölkerung, der ehemaligen Guerillakämpferin Ana, den protestierenden Näherinnen, die ganz kapitalistisch nach Stückzahl entlohnt werden wollen, dem geheimnisvollen Raúl und der Revolutionärin Juana kann sich Julia der Geschichte und derzeitigen Probleme des Landes langsam annähern.
Dabei spielt die Frauenbewegung eine besondere Rolle. Trotz Gesetzen, die die Gleichstellung der Frau gewährleisten sollen, leiden Frauen unter Gewalt und müssen doppelt so hart arbeiten, um ihre Existenz und die ihrer Kinder zu sichern. Durch Julias Begegnungen mit verschiedenen Frauen werden auch wir, die Lesenden, an die Fortschritte und ständigen Hindernisse im Kampf für mehr Frauenrechte herangeführt. Dabei werden Julia die Interessenkonflikte innerhalb der Revolutionsströmungen und die Diskrepanz von Ideologien und Wirklichkeit immer präsenter.
Elisabeth Erdtmann schöpft in diesem Buch aus Erfahrungen während ihrer Aufenthalte in Nicaragua in den 80ern. Dabei stellt sie die Revolution und das Verlangen nach Freiheit wild, zerstörerisch und doch fruchtbarkeitsbringend dar, so wie das Ausbrechen des Vulkans Momotombo.
Besprechung: Clara Hoffmann
tredition, Hamburg 2016. 404 Seiten. 14,99 €
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Christine Lammel
Die Superweiber der Steinzeit
Teil eins einer Geschichte der weiblichen Körperlichkeit
Der weibliche Körper hat seit jeher Männer und Frauen fasziniert. Er ist uns vertraut und doch auch wieder merkwürdig fremd.
Anschaulich und unterhaltsam zugleich beleuchtet Christine Lammel den weiblichen Körper in der Epoche der Steinzeit. Welche Entwicklungen setzten damals ein und wirken bis heute fort?
Viele Menschen bleiben mit den Fragen ihrer konkreten Körperlichkeit wie Geschlechtsreife, Sexualität, Geburt, Alter und Gewalterfahrung alleine. Die Autorin, die auch auf die Bereiche Ernährung, Sport, Heilkunde, Kosmetik und Körperpflege eingeht, nimmt alle Leserinnen und Leser mit auf eine spannende Reise, auf der sie die Würde, Ja Sakralmentalität des Körpers, der Leibhaftigkeit und der Erotik neu entdecken und schätzen lernen.
Weitere Infos zur Autorin und zum Buch: http://lammel.weebly.com/
Tectum Verlag Baden-Baden, 2010. 242 Seiten, 19,90 €
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Nujeen Mustafa
Mit Christina Lamb
Nujeen - Flucht in die Freiheit
Im Rollstuhl von Aleppo nach Deutschland
Die 16-jährige Nujeen ist seit ihrer Geburt auf den Rollstuhl angewiesen, kann die Schule nicht besuchen. Das Lesen und Schreiben auf Arabisch lernt sie von ihrer Schwester. Englisch, bringt sie sich bei, indem sie Fernsehserien schaut und mit einem ihrer Brüder, der die Sprache ebenfalls beherrscht, weiter übt.
Als der IS Aleppo bedrohlich nahe rückt, kehrt sie mit zwei Schwestern, Cousins und Cousinen ihrer Heimat den Rücken zu.
„Ich sah das Meer zum ersten Mal, wie es überhaupt das erste Mal für alles war – die Reise im Flugzeug und im Zug, der Abschied von meinen Eltern, den Aufenthalt im Hotel und jetzt die Fahrt im Boot! In Aleppo hatte ich kaum je die Wohnung im fünften Stock verlassen“.
Eine unwegsame Odyssee führt sie quer durch die Türkei, mit einem überfüllten Schlauchboot gelingt es ihnen, an der griechischen Insel Lesbos anzulegen. Hier trennen sich die Wege der Familienmitglieder:
Nujeen und ihre Schwester Nasrine versuchen tagelang vergeblich Flugtickets nach Deutschland zu bekommen, schließlich müssen sie ihre Reise mit dem Rollstuhl über Land fortsetzen. Immer wieder muss Nujeen von Nasrine geschoben werden.
An der ungarischen Grenze geht die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Flüchtenden vor. Nujeens Traum von Europa erhält Risse. In Slowenien müssen sie sogar für zwei Tage ins Gefängnis. Ihre Angst wächst. Über Österreich gelangen sie doch noch nach Deutschland. In Köln sehen sie dann ihre Familie wieder.
Heute lebt Nujeen dort mit ihrer Familie in einer kleinen rollstuhlgerechten Wohnung und besucht eine Schule für Menschen mit körperlichen Behinderungen in Bonn. Und Nujeen hat immer noch viel vor. Als nächstes möchte sie Physik studieren.
Nujeen Mustafa nimmt uns in ihrem Buch mit auf ihre riskante Reise, sie lässt uns an ihren Träumen teilnehmen, sie denkt aber auch über Baschar al-Assad, Victor Orbán und Angela Merkel nach.
Ihr ist es wichtig, dass Flüchtende nicht wie Zahlen, sondern wie Menschen behandelt werden. Mit ihrem Buch trägt sie dazu bei.
HarperCollins, Hamburg 2016. 299 Seiten. 18 €
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Nicola Müller; Isabel Rohner (Hrsg.)
Hedwig Dohm
Feuilletons 1877-1903
Sie gilt vielen als eine der scharfsinnigsten und witzigsten Frauenrechtlerinnen der letzten hundert Jahre und auch heute noch als moderne Denkerin. Die in dem vorliegenden Buch, zum ersten Mal in dieser Form, vereinten Artikel liefern dafür den schlagenden Beweis.
Humorvoll, aber immer durchdacht, kritisiert Dohm darin bestehende patriarchale Strukturen in der Gesellschaft, die einer Gleichberechtigung der Geschlechter im Wege stehen. Hedwig Folgerichtig setzt sie sich für gleiche Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten beider Geschlechter ein und forderte das Frauenstimmrecht.
Schon damals vertrat sie die Meinung, dass geschlechtsspezifische Verhaltensweisen kulturell geprägt und nicht biologisch vorherbestimmt sind.
Hedwig Dohm beschäftigte sich auch mit antifeministischen Texten zeitgenössischer Autoren, die sie gekonnt auseinander nimmt. Ihre Kritik gewinnt dadurch an Gewicht, dass sie konkrete Thesen aus den Texten der Autoren herausgreift, sie einander gegenüberstellt und aufzeigt, wie widersprüchlich sie sind. Ein gutes Beispiel für dieses Vorgehen bietet ihr Artikel „Nietzsche und die Frauen“ aus dem Jahr 1898. Hier rechnet sie mit seinen Aussagen über „das Weib an sich“ ab und verwendet am Ende seinen eigenen Text geschickt gegen ihn. So schreibt sie: „Du mein größter Dichter des Jahrhunderts, warum schriebst du über die Frauen so jenseits von Gut? (...). Ach ich weiß es ja: Auch große Geister haben nur ihre fünffingerbreite Erfahrung. Gleich daneben hört ihr Nachdenken auf, und es beginnt ihr unendlicher leerer Raum und ihre Dummheit.“
Dohm greift in ihren Texten immer wieder Frauenrechtsthemen auf, die auch heute noch diskutiert werden. So könnte auch ihr Artikel „Sind Berufstätigkeit und Mutterpflichten vereinbar“ aus dem Jahr 1900 einer aktuellen Debatte entstammen. Mütterlichkeit, so Dohm, könne nicht das Einzige sein, auf das sich der Daseinszweck von Frauen konzentriere. Denn ihr Leben erstrecke sich weit über die Grenze der Zeit hinaus, in der das Kind ihrer Fürsorge bedürfe.
Schließlich macht die Sprachgewandtheit der Autorin das Buch besonders lesenswert, ebenso die Tatsache, dass ihre Themen trotz des dazwischenliegenden Jahrhunderts immer noch relevant sind.
Besprechung: Johanna Priebs
Trafo Verlagsgruppe Dr. Wolfgang Weist, Berlin, 2016. 296 Seiten. 24,80 €
Francesca Sanna
Die Flucht
Bei ihrem Besuch in einem italienischen Flüchtlingszentrum traf Francesca Sanna 2014 viele Personen aus ganz unterschiedlichen Teilen der Erde, die alle eins gemeinsam hatten: sie waren geflohen. Die junge Illustratorin war tief beeindruckt von der Stärke und der Entschlossenheit, die sie alle auf ihrem Weg nach Europa bewiesen hatten. Sie beschloss, diesen mutigen Menschen ein Kinderbuch zu widmen.
Unter dem Titel „Die Flucht“ ist dieses Buch nun seit Juli in deutschen Buchläden erhältlich. Sanna erzählt darin die Geschichte einer Familie, die in ihrem Heimatland vom Krieg überrascht wird. Der Vater stirbt und die Mutter beschließt, sich mit ihren beiden Kindern auf den Weg in eine neue, sichere Heimat zu machen. Die beiden Geschwister kennen das Ziel nicht, sie wissen nur, dass sie dort viele Berge und fremde Städte erwarten. Vor allem aber hoffen sie, dort keine Angst mehr haben zu müssen. Auf ihrer Reise muss die Familie viele Grenzen überqueren - mal zu Fuß, mal im Laderaum eines Transporters und einmal sogar in einem kleinen Boot mit sehr vielen anderen Menschen.
Die Autorin hat im Vorfeld mit vielen Geflüchteten gesprochen und die verschiedenen Geschichten schließlich in ihrem Buch verarbeitet. Ihre liebevoll gestalteten Illustrationen und die kurzen, eingängigen Textpassagen bieten einen neuen, spannenden Blick auf das Thema. Sie zeigen, wie Kinder solche Ausnahmesituationen wahrnehmen und verarbeiten können. So erscheint der Krieg nicht etwa in Form von Soldaten, sondern als Dunkelheit, die nach allem greift, was bunt, friedlich und glücklich ist. Die Grenzwächter werden in den Geschichten der Kinder zu angsteinflößenden Riesen, das Meer zur Heimat von Ungeheuern, die ihr Boot zum Kentern bringen wollen und ihr Ziel zum Land von Feen, mit deren Hilfe sie den Krieg wegzaubern werden.
Das Bilderbuch, für das Francesca Sanna mit der Gold-Medaille der Society of Illustrators New York ausgezeichnet wurde, gibt uns einen Einblick in den Alltag der Geflüchteten auf ihrer beschwerlichen Odyssee nach Europa. Vor allem macht es deutlich, wie wichtig es ist, diesen Menschen respektvoll und einfühlsam zu begegnen.
NordSüd Verlag, Zürich 2016, 48 Seiten, 17.99€.
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