Interview mit Ayse, 25
„Ich dachte, ich bin die Einzige auf dieser Welt, die das gerade durchmacht“ – Vom Aufwachsen in einer streng patriarchalen Gemeinschaft und der eigenen Emanzipation.
TDF: Vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, um mit uns das Interview zu führen. Kannst du dich bitte kurz vorstellen?
Ayse: Ich bin Ayse und bin 25 Jahre alt. Ich wohne in der Nähe von Stuttgart und studiere Erziehungswissenschaften im Master. Ich beschäftige mich näher mit Themen wie patriarchalen Gesellschaften und dessen Auswirkungen und habe daher auch ein Projekt gestartet.
TDF: Über dein spannendes Projekt – deinen Blog Vaveyla - wirst du uns später noch ausführlicher erzählen. Du bist selbst in einer streng patriarchalen Familie aufgewachsen. Kannst du uns bitte darüber berichten, was das für dich, deinen Alltag und deine Entwicklung bedeutet hat?
Ayse: Für meinen aktuellen Alltag bedeutet es relativ wenig. Das liegt aber daran, dass ich mich von dem Umfeld, wo ich aufgewachsen bin, entfernt habe. Wenn ich über meine Erfahrungen berichte, bezieht es sich nicht ausschließlich auf meine Familie, sondern auch auf mein damaliges soziales Umfeld. Mein Umfeld bestand aus einer muslimischen community und die hat auch mein Leben beeinflusst. Aus meinem Umfeld habe ich mich entfernt, nicht weil sie mir etwas angetan hätten, sondern weil ich mich dort nicht mehr wohlgefühlt habe. Deswegen spielt es für mein aktuelles Leben kaum eine Rolle. Wenn ich mit meiner Familie zusammen bin, passe ich beispielsweise auf, wie ich angezogen bin und dass ich nicht die kritischsten Themen, wie beispielsweise islamkritische Themen, anspreche.
In Bezug auf meine Entwicklung und mein Aufwachsen war es so, dass ich von klein auf in die Moschee gegangen bin und jedes Wochenende islamische Kurse besucht habe. Auch in den Ferien habe ich diese Kurse besucht und über den Islam gelernt. Aus diesem Grund bestand mein soziales Umfeld fast ausschließlich aus dieser muslimischen community. Wenige Freunde „von außen“ hatte ich zwar, aber die engen Leute, waren immer Kinder oder Familien aus eher streng muslimischen Familien und da ist man automatisch ein bisschen isoliert von der Außenwelt.
Ich habe dann mit neun, vermeintlich freiwillig, angefangen ein Kopftuch zu tragen. In meinem ganzen Umfeld kannte ich eben keine einzige weibliche Person, die kein Kopftuch getragen hat und ich wollte dann unbedingt auch eins tragen. Am Anfang war auch meine Mutter dagegen, weil sie meinte, ich sei noch zu jung. Ich konnte sie aber überzeugen und habe angefangen eines zu tragen. Die Schwierigkeit mit dem Kopftuch hat erst dann angefangen, als ich es ablegen wollte. Damals habe ich gemerkt, dass das Ablegen des Kopftuchs, nicht so einfach ist, wie es immer den Anschein gemacht hat. In mir kamen die ganzen Sachen hoch, die man als 14, 15-Jährige gelernt hat. Es geht um dieses bestimmte Frauenbild: Was bedeutet es ein Kopftuch zu tragen, wie sind Frauen, die kein Kopftuch tragen? Zum Beispiel wurde mir nahegebracht– und das ging mir ständig durch den Kopf: Eine Frau sei wie eine Perle. Die Muschel steht hierbei für den Schutz der Perle, und für das Kopftuch bzw. für die Bedeckung der Frau. Mit so einem Bild bin ich aufgewachsen und solche Beispiele kommen einem in den Sinn, wenn man das Kopftuch nicht mehr tragen möchte.
Das Aufwachsen in einer streng patriarchalen Umgebung hat sehr meine Entwicklung und meine Identität geprägt. Es hatte großen Einfluss auf die Entscheidung das Kopftuch abzulegen, weil das Kopftuch ein großer Teil meiner Identität und meines muslimischen Glaubens war. Es war ein bisschen so, als müsste ich mich erst als Person neu finden. Es macht viel, wenn man aus dem eigenen Umfeld ein bisschen raus möchte. Wenn ein Kind darin aufwächst, ist es schon ein riesiger Teil der Identität.
TDF: Vielen Dank liebe Ayse für deine Ausführungen. Für mich haben zwei Fragen ergeben, die ich gerne mit dir vertiefen möchte. Du hast uns berichtet, dass du ab neun Jahren angefangen hast, ein „Kinderkopftuch“ zu tragen, und es später wieder abgelegt hast. Wie alt warst du denn als du das „Kinderkopftuch“ bzw. Kopftuch abgelegt hast?
Ayse: Ich habe relativ spät das Kopftuch abgelegt. Auch als Jugendliche habe ich es noch getragen. Während des Studiums auch noch. Ich versuche mal kurz zurückzudenken. Es sind gerade mal 3 bis 4 Jahre seitdem ich es nicht mehr trage und die ersten 2 Jahren waren auch heimlich, sag ich mal. Ich bin mit dem Kopftuch aus dem Haus und habe es dann draußen abgelegt. Ich hatte damals schon meinen Führerschein. Ich habe es also im Auto abgelegt und habe meinen Alltag gelebt. Das war aber nach dem Bachelorstudium. Während des Studiums habe ich noch komplett das Kopftuch getragen.
In der Zeit, als meine Familie noch nicht wusste, dass ich außerhalb des Hauses kein Kopftuch mehr trage, habe ich mich sehr gestresst gefühlt. Diese zwei Jahre haben in mir Stress und Angst ausgelöst. Ich hatte zum Beispiel Angst, dass mich jemand draußen in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch sieht. Vor allem hatte ich Angst, dass mich jemand aus meiner community sieht. Dass mich jemand von der Familie sehen könnte, war eher nebensächlich, aber dass mich ein community-Mitglied sieht, hat mich total gestresst. Falls es mal passiert ist, habe ich auch extreme Panik bekommen. Nach knapp zwei Jahren habe ich diesen Zustand nicht mehr ertragen. Daraufhin habe ich meinen Eltern mitgeteilt, dass ich draußen kein Kopftuch mehr trage. Sie haben noch extrem lange gebraucht damit klarzukommen. Am Anfang haben sie es nicht akzeptiert. Daraufhin habe ich ihnen mitgeteilt, dass es meine Entscheidung ist und ich auch nicht mehr so weitermachen kann, es ging einfach nicht mehr. Allerdings bestanden sie darauf, dass ich es noch circa ein Jahr vor ihnen trage. Ich bin eben weiterhin mit Kopftuch aus dem Haus raus und habe es draußen abgelegt. Sie wussten zwar, dass es so ist, aber sie haben irgendwie extrem lang gebraucht damit klarzukommen, dass ich ohne Kopftuch draußen bin. Es ist ungefähr eineinhalb Jahre her, dass es meine Eltern und mein ganzes Umfeld wissen, dass ich kein Kopftuch mehr trage und sie es auch alle sehen können. Keiner sagt etwas. Die Situation ist eigentlich noch relativ neu.
TDF: Aus deinen Schilderungen kann ich entnehmen, wie viel Kraft es dich gekostet hast. Du hast auch von einem bestimmen Frauenbild in deiner community berichtet. Kannst du uns bitte nochmal genauer erklären, was mit dem bestimmten Frauenbild gemeint ist?
Ayse: Es fing schon relativ früh an, dass einem gesagt wurde, wie sich eine Frau zu kleiden hat und es wurden immer viele Vergleiche gemacht. Beispielsweise so bedecke sich eine Frau richtig und so falsch. Es hat nicht ausgereicht, dass sie in Kopftuch getragen hat und zugleich eine enge Hose und Oberteil. Sondern alle Körperrundungen mussten bedeckt sein. Denn der Körper einer Frau wurde mit Schmuck verglichen. Das bedeutet, im Auge des Mannes, ist der Körper der Frau anziehend - Schmuck - und alles muss bedeckt werden. Und so habe ich mich auch selbst gesehen. Diese extrem sexualisierte Vorstellung vom eigenen Körper. Anhand dieser Beispiele hat man sich auch selbst wahrgenommen und ich habe mich auch sehr unwohl gefühlt, wenn ich mal was etwas Engeres anhatte und mein Körper war mal ein bisschen betonter. Ich habe mich unwohl gefühlt, weil ich wusste, wie ich von außen wahrgenommen werde. Gerade von Männern, aber auch von anderen Frauen, die dann mit so einen Blick auf einen schauen. Diese Selbstwahrnehmung hat schon relativ früh angefangen, schon mit 14, 15 hatte ich diese Gedanken.
Das Frauenbild in meiner muslimischen community, ging um die perfekte, islamische Frau, die auf ihren Mann hört, die immer fügig sein soll und zum Beispiel nicht nein zum Sex sagen darf, weil sonst Engel die Frau verfluchen. Auch solche Themen kamen schon früh auf. Da war mir früh bewusst, wenn ich mal heirate, muss ich immer mit meinem Mann Sex haben, wenn er das möchte. Das kam früh. Ich habe auch neulich mit Freunden darüber geredet. Eine Freundin hat zum Beispiel auch eine Aussage getroffen, die ich auch sehr heftig fand, aber sie hat es sehr gut getroffen. Sie meinte: „Ich wusste schon damals, dass ich in meiner Ehe vergewaltigt werde“. Mit diesen Gedanken hat man sich früh beschäftigt. Als Kind, mit 12, 14, 16, hat man diese Gedanken schon gehabt und deswegen hat man teilweise auch extrem Angst vor der Ehe, vor dem Heiraten und vor Sexualität, das war auch ein Thema, wo man nie darüber geredet hat. Es war dann halt einfach so. Es war keine Frage, es läuft so. Genau das war das Frauenbild innerhalb meiner community.
TDF: Fragen, die sich daraus für mich ergeben: War es für dich klar, dass außer-eheliche Sexualkontakte verboten waren? War es möglich einen Freund zu haben? Hattest du Angst, dass man dir was „Schlechtes“ nachsagen könnte?
Ayse: Ja, natürlich. Das schlechte Nachsagen war für mich so ein bisschen nebensächlich. Ich kenne aber auch viele Geschichten, wo das ein Punkt ist. Aber ich habe extreme Schuldgefühle gehabt, wenn man jemanden kennenlernt. Es war irgendwie immer im Hinterkopf. Es gibt die Gedanken: „Du macht etwas falsch. Gott wird dich dafür bestrafen“. Das war irgendwie immer im Hinterkopf, dass ich eigentlich nicht machen sollte. Genau, Kontakte außerhalb der Ehe waren verboten, man musste gar nicht erst die Frage stellen.
TDF: Hattest du den Eindruck, dass männliche community Mitglieder anders behandelt wurden. Dass ihnen zum Beispiel mehr Freiheiten zugestanden wurden oder dass sie sich anders verhalten durften?
Ayse: Also bezüglich Sexualität nicht. Es ist genauso streng gewesen. Weil islamisch gesehen außer-ehelicher Geschlechtsverkehr für beide eine Sünde ist. Aber was ich oft erlebt habe, insbesondere im muslimischen Verein, dass Mädchen und Jungen anders behandelt wurden. In meinem muslimischen Verein waren wir zehn 14 bis 15-jährige Mädchen. Wenn wir eine Aktivität organisieren wollten, musste immer alles extrem islamisch sein. Es sollte immer in einem Gebäude sein. Eislaufen durften wir zum Beispiel nicht. Während die Jungs auch in Berlin waren, oder Eislaufen und Skifahren gegangen sind. Uns wurde immer gesagt, wir sollten etwas in einem Gebäude machen, das wäre für uns als Mädchen besser. Wir sollten nicht draußen gesehen werden. Das war ein Riesenunterschied. Worüber wir uns sehr oft auch aufgeregt haben. Ich muss einfach sagen, dass wir einfach nichts machen durften. Gerade in Namen vom Verein hieß es dann, aber ihr repräsentiert die Muslime und das ist dann nicht gut, wenn ihr als Mädchen das und das draußen macht. Es musste bei uns immer extrem viel abgeklärt werden, wie wir etwas machen, wo wir hingehen, wie genau es ablaufen soll. Und bei den Jungs damals ging das eigentlich ziemlich locker. Also die jüngeren Jungs sind gerade erst im Ausland gewesen, habe ich gerade von meinem Cousin mitbekommen.
TDF: Eine deutliche Geschlechtertrennung.
Ayse: Ja, sehr streng. Man hat auch keine Ausflüge oder dergleichen gemeinsam gemacht. Es war immer getrennt.
TDF: Habe ich es richtig verstanden, du bist überwiegend innerhalb deiner Familie und deiner community geblieben? War das für dich als Kind und Heranwachsende normal oder hast du auch hinterfragt, warum das so ist?
Ayse: Nein, das war tatsächlich voll normal für mich. Ich habe das nicht hinterfragt. Es war auch nicht so, dass es total schlimm war. Es waren auch meine Freunde, mit denen ich dort war. Ich habe sie auch außerhalb der Moschee ab und zu getroffen. Es war nur so, dass es fast ausschließlich Menschen aus dieser community waren. Ich habe das nicht hinterfragt. Dieses Hinterfragen kam tatsächlich erst mit 18, 19 Jahren, als ich angefangen habe zu studieren und andere muslimische Menschen gesehen habe, die viel lockerer aufgewachsen sind. Sie haben gesagt, dass sie muslimisch sind, sie haben allerdings nicht nach den gleichen strengen Regeln gelebt als ich. Und da hat dieses Hinterfragen erst begonnen. Also nicht davor, es war total normal für mich, dass ich so aufgewachsen bin.
TDF: Vielen Dank für deine Erklärungen. Wir haben bereits im Vorgespräch herausgearbeitet, dass deiner Meinung nach das „Kinderkopftuch“ ein Teil dieser strengen, patriarchalen Erziehung ist, aber nicht alles. Kannst du uns da nochmal die Zusammenhänge erklären? Für alle, die nicht aus dieser community sind oder sich mit diesen Gedanken noch nicht so intensiv befasst haben.
Ayse: Ja, das „Kinderkopftuch“ ist eigentlich nur ein Ausdruck davon, wie das Aufwachsen in einer so strengen Erziehung ist. Wie gesagt, es fängt wirklich mit dem Frauenbild an und da ist das Kopftuch eigentlich wirklich zweitrangig. Es geht im Grunde um den ganzen Körper der Frau, der extrem sexualisiert wird. Und das Mädchen nicht so viel reden sollen, das Mädchen ruhig sein sollen und sich nicht gegen den Vater, den Bruder oder generell gegen die Familie stellen sollen und auch allgemein nicht anecken sollen. Das sind eigentlich die Hauptsachen. Das sind die Hauptdinge in der Erziehung. Das Kopftuch ist der Ausdruck nach außen, sozusagen. Ich kenne auch super viele Mädchen, die wie ich aufgewachsen sind, und viel später angefangen haben das Kopftuch zu tragen. Es ist irgendwie ein Teil davon, aber ich finde es auch kritisch, es nur auf das „Kopftuch“ zu reduzieren. Weil es eben viel, viel mehr bedeutet so aufzuwachsen. Bei mir sehr muslimisch, alles sehr auf den Islam bezogen, und alles muss nach dem Islam gerichtet sein. Es gibt nur richtig oder falsch. Es gibt kein grau, nur schwarz und weiß. Das sind eigentlich die Hauptprobleme in der ganzen Erziehung und das Kopftuch ist eigentlich nur ein Teil davon.
TDF: Du kennst unsere Forderung zu einer bundesweiten Regelung des „Kinderkopftuchs“ bis 14 Jahren in öffentlichen Bildungseinrichtungen“. Was hätte dir in deiner Schulzeit geholfen?
Ayse: Ja, ich finde diese Frage immer schwer zu beantworten, vor allem, wenn ich zurückdenke an die Zeit, wo ich noch total davon überzeugt war, also so mit 13, 14, dass ich komplett freiwillig ein „Kinderkopftuch“ trage. Ich wurde damals auch von LehrerInnen angesprochen. Sie haben mich nach dem Unterricht gefragt, ob ich es freiwillig mache oder ob meine Eltern mich dazu zwingen würden. Ich hatte eine sofortige Abwehrreaktion auf so eine Frage. Weil ich mich angegriffen gefühlt habe, in meiner eigenen Identität. Selbstverständlich mache ich das freiwillig. Und meine Eltern würden mich nicht zwingen. Deswegen finde ich es ein bisschen schwierig, es direkt anzusprechen.
Ich finde, bis 14 Jahren ist die Forderung absolut unterstützenswert und ich stehe selbst dahinter. Davor kann man sich noch nicht zu 100% selbst dafür entscheiden. Ab 14 Jahren ist man religionsmündig und hat zumindest eine gewisse Entwicklung hinter sich. Ein „Kinderkopftuch“ mit 9, 11 oder 13 finde ich frauenfeindlich, vor allem wenn man die Geschichte hinter dem Kopftuch kennt. Es prägt einen total und macht was mit einem.
Ich möchte auch auf die politische Situation in Deutschland eingehen. Ich selbst habe es nicht ernst genommen und bin nicht darauf eingegangen, wenn mich Lehrkräfte auf das Kopftuch angesprochen haben. Es besteht allerdings noch ein anderer Grund, eine Wechselwirkung mit der politischen Situation in Deutschland, die es nochmals verstärkt. Das ist auch ein Grund, warum man auch nicht mit außenstehenden Personen über ihre familiären Probleme reden kann. In den Medien und der Gesellschaft gibt es ein festes Bild von dem muslimischen Mädchen, was unterdrückt wird. Wie mir geht es vielen Bekannten: Man möchte so ein negatives Bild nicht nach außen tragen. Es ist dann auch egal, ob die Schulsozialarbeiterin oder der Schulsozialarbeiter oder die Lehrkraft einen auf das Kopftuch ansprechen. Die erste Reaktion ist es zu verneinen. Auch die Frage, ob man gezwungen wird ein Kopftuch zu tragen, wird in der Regel verneint, selbst wenn es die Realität ist. Einfach um ein positives Bild nach außen zu tragen. Nicht nur weil es eben ein Druck von der Familie ist, sondern weil es auch diese Wechselwirkung beinhaltet. Draußen gibt es sowieso schon so ein negatives Bild von uns. Ich möchte das nicht noch verstärken, indem ich meine Geschichte erzähle. Weil dann verstärkt es das Bild oder bestätigt nochmal dieses Bild und die Leute denken, es handelt sich um das typisch unterdrückte Mädchen, die irgendwie leise sein muss.
TDF: Ist das nicht auch eine Art von Selbstzensur?
Ayse: Ja es ist eine Selbstzensur. Es besteht in der Tat eine Erwartungshaltung an sich selbst, dass man seine Familie und community positiv darstellt. Beispielsweise, die sind gar nicht so streng und meine Familie ist nicht so wie die, die in den Medien dargestellt wird. Und da zensiert man sich eher selber, anstatt die Familie negativ darzustellen. Man erzählt, dass die Familie am Anfang sogar gegen das Kopftuch war und solche Sachen. Ganz oft auch wirklich erfundene Geschichten. Zum Teil, da es auch wirklich sehr privat ist, allerdings auch weil die Erwartung besteht, ich muss meine Familie gut dastehen lassen. Ich denke, dass es auch zum Teil damit zu tun, dass es Mädchen sind. Der ganze Begriff um Familienehre, um den es ganz oft geht, hängt an den Mädchen. Und sie müssen auch innerhalb der community ein positives Bild nach außen setzen. Egal wie es in der Familie läuft.
Die Mädchen können es auch nicht laut aussprechen, weil es einfach nur noch schlimmer wird. Wir sind überzeugt, dass Bild zu verstärken, welches die AfD über uns hat, indem wir unsere Geschichten erzählen. Solche Dinge sind es dann halt. Da gehen ganz viele Dinge im Kopf rum. Ganz viele Mädchen und Frauen, die ich kenne, die gefragt werden, ob sie unter Zwang das Kopftuch tragen, verneinen es. Sie sagen mit Überzeugung, dass es nicht stimme, aber zu Hause ist es für die Person ein Riesenthema. Man spricht nicht nur, weil man es nicht ernst nimmt, sondern weil man es sich nicht traut darüber zu reden, weil man sich schämt darüber zu reden.
Was mir geholfen hätte - ich weiß allerdings nicht, wie man das durchsetzen könnte - wäre die Sichtbarkeit von anderen Mädchen, denen es genauso geht. Gerade auch weil es ein so schambehaftetes Thema ist, würde ich beispielsweise nicht mit meiner Lehrerin darüber reden. Und auch nicht mit meinen Eltern. Lieber mit Menschen, die einen ähnlichen Weg gehen und ähnliche Probleme haben und irgendwie nachvollziehen können, was man durchmacht. Einen Raum zu schaffen für Mädchen, um diese Themen besprechen zu können. Aber wie man diesen Raum schafft, finde ich schwierig. Weil, wenn mich eine Lehrerin angesprochen hatte, hatte ich eher eine Art Schutzschild und habe da nichts rangelassen.
TDF: Vielen Dank für deine Erfahrungen und Einordnungen. Das führt uns zu der Gründung deines Blogs mit dem Namen Vaveyla. Mit diesem Blog haben Mädchen und junge Frauen die Möglichkeit, anonym ihre Geschichte zu erzählen. Soweit wir wissen, ist dieser Blog einzigartig in Deutschland. Wir haben nichts Vergleichbares finden können. Kannst du uns bitte in das Thema mitnehmen, warum es so wichtig ist diesen Raum zu haben. Einen Raum, wo diese tabuisierten und schambehaftete Themen angesprochen werden können.
Ayse: Das ist genau der Grund, warum ich es gemacht habe, weil ich es selber gebraucht habe. Im Nachhinein habe ich gemerkt, ich hätte es sehr gebraucht, einen Raum zu haben, um diese Themen ansprechen zu können, ohne dafür verurteilt zu werden und zumindest Menschen vor mir zu haben, die das verstehen können. Ich habe so einen Blog im türkischen Web gefunden, wo Mädchen ihre Geschichten hochladen konnten. Dabei ging es nur um das Kopftuch und das Kopftuch ablegen. Und ich habe mich das erste Mal gesehen gefühlt und verstanden gefühlt. Und genau das braucht es auch in Deutschland. Weil es eben in Deutschland nochmal andere Erfahrungen sind, als in einem muslimischen Land wie in der Türkei. Es geht in der Hauptsache darum, dass die Geschichten zuerst niedergeschrieben werden können. Man muss nicht direkt darüber reden. Man kann sich zuerst überlegen, was möchte man schreiben möchte. Es ist anonym, es hat auch keine Folgen. Ist es hochgeladen, ist es da. Wenn ich mich nicht mehr damit auseinandersetzten möchte, ist es auch okay. Hauptsache es gibt einen Raum, wo diese Themen offen angesprochen werden können, ohne direkt eine Rückmeldung zu bekommen. Weil gerade am Anfang von diesem Weg, ist es zuerst sehr schwierig diese Gedanken überhaupt zu akzeptieren. Es ist sehr hilfreich, in einem Blog zu lesen, nicht allein damit zu sein. Das habe ich auch sehr oft aus meinem Umfeld mitbekommen, die einen ähnlichen Weg wie ich gegangen sind. Ich dachte, ich bin die Einzige auf dieser Welt, die das gerade durchmacht. Weil man einfach keine Menschen in seinem Umfeld hat, die das auch durchgemacht haben. Das Ziel des Blogs ist es, diese Menschen zusammenzubringen. Und auch lesen zu können, es gibt diese Erfahrungen und diese Folgen. Und diese Folgen waren diese und diese. Zum Beispiel, die Person hat noch Kontakt zu ihrer Familie, so schlimm ist es dann doch nicht. Weil man sich auch ganz viele Dinge ausmalen kann.
Ich kann hier auch weiter ausholen. Neulich hatte ich ein Gespräch mit einer Freundin, die auch das Kopftuch abgelegt hat. Sie meinte, als sie es ihren Eltern erzählen wollte, war ihr Plan einen Brief zu schreiben und dann erstmal zwei Wochen in der Türkei Urlaub zu machen. Sie hätte die Reaktion ihrer Eltern nicht ertragen können. Und bei mir was es genauso. Ich hatte zuhause eine Tasche gepackt, die ich in die Ecke gestellt habe, und habe es danach meinen Eltern erzählt. Im Nachhinein war es ein Gespräch und ich habe stundenlang mit meinen Eltern geredet. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie sie hätten reagieren können, weil ich keinen Vergleichswert hatte. Von Null bis Hundert habe ich alles erwartet. Ich dachte, okay, wenn sie dich aus dem Haus werfen, habe ich zumindest eine Tasche, die ich mitnehmen kann. Es ist nicht dazugekommen, dass sie mich aus dem Haus werfen. Aber allein, dass ich den Gedanken hatte, es kann passieren, zeigt einfach, dass ich null Vorstellung davon hatte, was hätte passieren können. Das hat sich auf dem türkischen Blog total widergespiegelt. Die Mädchen schrieben oft darüber, dass sie Angst davor haben, was ihre Eltern machen könnten. Das Ziel des Blogs ist es, den Mädchen vielleicht etwas Angst zunehmen, ihnen Mut zu schenken. Sie können immer noch ihre Familien am besten einschätzen, ob es jetzt wirklich gefährlich wird oder nicht. Das können die Mädchen am besten einschätzen. Bei vielen Familien ist es dann vermutlich ein sehr langes Gespräch, und manche akzeptieren es und manche nicht. Aber zumindest den Gedanken mitzugeben, dass es okay ist auch mal zu zweifeln oder zu gucken, ob ich vielleicht doch einen anderen Weg gehen möchte, wie meine Eltern und was passiert, wenn ich das mache. Und sie es dann durch diesen Blog einfach lesen können, solche Dinge passieren.
TDF: Vielen Dank für deine Informationen und die Gründung deines – bislang einzigartigen - Blogs. Darf ich nachfragen, du warst in der Moscheegruppe für Mädchen. Hattest du dort eine Vertraute oder Verbündete, mit der du solche Fragen und Zweifel besprechen konntest?
Ayse: Damals nicht. Aber bei mir ist auch der Punkt, dass ich es sehr lange „freiwillig“, gemacht habe. Ich sage freiwillig immer in Anführungszeichen. Deswegen hatte ich auch nicht das Bedürfnis dazu. Dieses Bedürfnis kam erst später. Jetzt habe ich nur noch Kontakt zu Leuten, die genau das gleiche gemacht haben, wie ich. Aus der damaligen community, kenne ich noch 5, 6 Frauen, die jetzt alle das Kopftuch abgelegt haben und eine, die es immer noch heimlich macht. Die Familie weiß davon nichts. Sie legt es draußen heimlich ab, wenn sie zur Arbeit geht. Aber mit diesen Leuten, habe ich wirklich erst viel später darüber geredet, als ich schon draußen kein Kopftuch mehr getragen habe. Aber während dieser Zeit in der Moscheegemeinde, war es wirklich schwierig erstmal mit den Gedanken klarzukommen. Tatsächlich habe ich mit niemanden darüber geredet. Einfach weil ich dachte, ich bin komplett allein damit. Das hat sich erst herausgestellt, als ich darüber offen angefangen habe zu reden. Da habe ich gemerkt, oh ich bin doch nicht allein. Aber man muss darüber reden. Das wiederum macht allerdings niemand. Heute weiß ich, ich war nicht allein. Alle von uns haben allerdings gedacht, es gibt niemanden und sie wären mit ihrem Zweifel und Sorgen allein.
TDF: Dein Blog ist ein wichtiger Erfahrungsaustausch. Ein Raum, um Gedanken, Zweifel und Unsicherheiten formulieren können.
Ayse: Ja, das ist auch das Ziel des Blogs.
Weiterführende Informationen:
- Blog Vaveyla
- Der im Original türkischsprachige Blog bietet auch Übersetzungen in weitere Sprachen an, und anderem auch ins Englische. Im Englischen heißt der Blog “You Won’t Walk Alone” und kann unter
- https://yalnizyurumeyeceksin.com/en/eng/ abgerufen werden