Gesamtauswertung der Bundesregierung zur Evaluierung des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen

Die wichtigsten Erkenntnisse aus Sicht von TERRE DES FEMMES (TDF)

1. Das Freizügigkeitsgesetz/EU muss dringend geändert werden

Die Erkenntnisse der für die Beantragung der Aufhebung einer Ehe zuständigen Behörden (Anlage 3) bestätigen einhellig, dass sich in der Praxis eine Rechtsprechung entwickelt hat, die Anträge von und für EU-BürgerInnen mit Hinweis auf die Verletzung der Freizügigkeit in der EU und Vorliegen einer schweren Härte regelmäßig zurückweist. Dies führte sogar zu der Forderung, dass sich das Gesetz auf minderjährig verheiratete Personen beschränken solle, die nicht aus einem Mitgliedstaat der EU stammten (u.a. Niedersachsen). Dies kann jedoch nicht die Lösung sein. Der Schutz des Kindeswohls muss für ALLE Kinder gelten, auch für Minderjährige aus EU-Staaten. Zumal von den insgesamt 140 gestellten Anträgen auf Eheaufhebung nur 21 nicht-EU-Staaten betrafen; dafür aber 29 Anträge Bulgarien sowie jeweils 9 Anträge Griechenland und Rumänien. Daher ist es dringend geboten, das FreizügG/EU zu ändern, sodass EU-Staatsangehörige bei Unwirksamkeit bzw. nach Aufhebung ihrer Ehe ihr Freizügigkeitsrecht und Familienangehörige von EU-Staatsangehörigen ihr Aufenthaltsrecht nicht verlieren.

Am 10. September 2020 wird in erster Lesung ein Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag beraten, der aktuelle Anpassungen des FreizügG/EU vorsieht. Das weitere Gesetzgebungsverfahren muss unbedingt genutzt werden, um solch eine Regelung aufzunehmen. § 3 FreizügG/EU n.F. sollte um einen Absatz 5 ergänzt werden:

„Familienangehörige nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 a) und b), die nicht Unionsbürger sind, behalten ihr Aufenthaltsrecht, auch wenn die Ehe oder Lebenspartnerschaft nach deutschem Recht wegen Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Eheschließung unwirksam ist oder aufgehoben worden ist. Familienangehörige nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 a) und b), die Unionsbürger sind behalten ihre Freizügigkeit auch ohne Unterhaltssicherung, wenn die Ehe oder Lebenspartnerschaft nach deutschem Recht wegen Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Eheschließung unwirksam ist oder aufgehoben worden ist.

2. Verfahrenswege müssen geklärt, Verwaltungsprozesse vereinfacht werden: Unterstützung durch Bereitstellung einer Handreichung

Aus den Rückmeldungen der Familiengerichte, der Standesämter, der zuständigen Behörden und der Jugendämter geht hervor, dass auch drei Jahre nach Inkrafttreten viele Unklarheiten herrschen und Verfahrensabläufe verbessert werden müssen. Von Jugendämtern wurde diesbezüglich konkret die Veröffentlichung einer Handreichung, von Standesämtern die Bereitstellung von Handlungshilfen gefordert.

Rechtsgrundlagen für folgende Verbesserungsvorschläge sollten dringend geschaffen werden:

  • Zentralisierung, dass in jedem Bundesland eine Behörde zentral für die Aufhebungsverfahren zuständig ist. Diese muss zudem allgemein bekannt sein.
  • Standardisierte Überprüfung und statistische Erfassung des Alters bei Eheschließungen durch Meldebehörden, Ausländerbehörden, Konsulaten, BAMF, Standesämtern, ARGEn, Finanzämtern und Jugendämtern; damit einhergehend: eine Sensibilisierung der MitarbeiterInnen.
  • Mitteilungspflicht aller Behörden von Fällen minderjähriger Eheschließungen an die Jugendämter, wenn ein Ehegatte noch jünger als 21 Jahre alt ist. zur Überprüfung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder Hilfen zur Erziehung erforderlich sind.
  • Zuständigkeit einer Behörde und Form für Bestätigungserklärungen sowie deren zentrale Speicherung.
  • WICHTIGE Vorschläge: Die Bestätigungserklärung sollte öffentlich-rechtlich beurkundet werden, um ein Mindestmaß an Rechtsberatung vor der Abgabe sicherzustellen (Sachsen); die Befragung zur Bestätigung sollte ausdrücklich nur in einem persönlichen Gespräch ohne die Anwesenheit Dritter erfolgen (Niedersachsen); eine Bestätigung über die Fortsetzung der Ehe sollte erst nach einem Beratungsgespräch erfolgen können. Das könnte eine Änderung in Artikel 229 § 44 EGBGB gesetzlich regeln (Sachsen-Anhalt).

3. Religiöse/soziale Eheschließungen von Minderjährigen müssen wirksamer bekämpft werden

Es ist erschreckend, dass es so gut wie keine belastbaren Erkenntnisse zu in Deutschland beabsichtigten bzw. erfolgten religiösen oder sozialen Eheschließungen mit Minderjährigen gibt. Diese sind nach § 11 Abs. 2 PStG verboten. Die Jugendämter meldeten auf die Frage, ob sie von Dritten von einer beabsichtigten Eheschließung Minderjähriger informiert würden, „überwiegend recht wenige Erfahrungswerte“. Wie kann das sein? Rückmeldungen von Lehrkräften, SchulsozialarbeiterInnen und (haupt- und ehrenamtlichen) MitarbeiterInnen von Geflüchteteneinrichtungen an TDF weisen auf eine sehr hohe Zahl an (beabsichtigten) religiösen/sozialen Frühehen in Deutschland hin. Warum verfügen die Jugendämter dann über so wenig Erfahrungswerte? Hier muss dringend gegengesteuert werden, am besten mit Aufklärungskampagnen und Schulungen für Fachkräfte. Auch die unter Punkt 2 genannte Forderung nach einer Handreichung für die Kinder- und Jugendhilfe kann hier hilfreich und unterstützend für alle Beteiligten sein.

Ein Regierungsbezirk in Nordrhein-Westfalen meldete, dass bei Standesämtern seines Aufsichtsbezirks mehrere „Anfragen zu ‚Urkunden‘ islamischer Zentren über eine ‚Eheschließung‘ eingegangen“ seien, eine Geldbuße jedoch in keinem der Fälle verhängt worden sei. Leider gibt es dazu keine weiteren Angaben. Eine „Urkunde“ wäre jedoch der erforderliche Beweis, um eine Geldbuße nach § 70 Abs. 3 PStG zu verhängen (sollten Minderjährige involviert gewesen sein). Insgesamt herrscht auf diesem Gebiet weiterhin viel Unsicherheit. Grundsätzlich sollten Ausländerbehörden zumindest religiöse Oberhäupter muttersprachlich über das gesetzliche Verbot informieren, wenn sie neu einreisen und eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, sowie bei jeder Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis.

4. Verbesserungen im Gerichtsverfahren

Die Familiengerichte weisen darauf hin, dass aufgrund des Vorrang- und Beschleunigungsgebots gemäß § 129a FamFG die Jugendämter nur einen Monat Zeit hätten, den Sachverhalt zu ermitteln. Dies sei nicht möglich. Jedoch ist dies nur der Fall, wenn die Jugendämter erst durch die Familiengerichte beteiligt werden, das heißt, erst mit Antragseingang informiert werden. Daher ist es dringend erforderlich, dass die Jugendämter schon von den zuständigen Behörden verpflichtend beteiligt werden.

Die Familiengerichte empfehlen eine zeitliche Befristung der Antragstellung von beispielsweise fünf Jahren nach Eheschließung. Eine klare Regelung hierzu fehlt im Gesetz und wird auch von TDF als problematisch angesehen. Eine zeitliche Befristung ist daher zu begrüßen.

Es wird die Bestellung eines Ergänzungspflegers oder Verfahrensbeistands empfohlen. Diese Empfehlung  wird auch vom Ada Schutzhaus ausgesprochen, das damit sehr positive Erfahrungen gemacht hat.

5. Die Datenlage ist ungenügend

Auch wenn die vorliegenden Daten es erlauben, Rückschlüsse auf die Wirksamkeit des Gesetzes zu ziehen und konkrete Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, ist die Datenlage insgesamt ungenügend. Das BMJV selbst schreibt, dass die „Datenlage insgesamt vorsichtig einzuschätzen“ sei. Tatsächlich informiert das BMI, das für die Datenerhebung bei den Standesämtern und zuständigen Behörden verantwortlich zeichnet, dass Schleswig-Holstein bisher (Stand 11. Mai 2020) nicht geantwortet habe, Berlin darum gebeten haben, seine Zahlen mit „gebotener Zurückhaltung“ zu betrachten, und Rheinland-Pfalz laut eigener Aussage „lediglich Schätzungen“ rückgemeldet habe, da über die Jahre keine Statistik geführt worden sei. Von den Jugendämtern aus Hamburg und dem Saarland erfolgte ebenfalls gar keine Rückmeldung. Weiterhin auffällig sind die vielen „Fehlanzeigen“, die gemeldet wurden. Gerade die Unkenntnis über die Zahl der unwirksamen Ehen bzw. die generell vermutete hohe Dunkelziffer von religiösen/sozialen Kinderehen macht es aber umso dringlicher, die Datenlage substanziell zu verbessern.

6. Prüfung von Härtefällen vor Gericht

TDF ist besorgt darüber, dass in den Aufhebungsverfahren vermehrt überprüft wird, ob die Ehe „freiwillig“ eingegangen wurde. Aus jahrelanger Erfahrung wissen wir, wie schwierig es ist, die Frage von Freiwilligkeit vs. Zwang vor Gericht zu klären. In allen gesammelten Rückmeldungen (Familiengerichte, Jugendämter, Standesämter, zuständige Behörden) gibt es Hinweise auf den teilweise sehr starken Druck der Familien, der auf dem Ehepaar laste.

Gleichzeitig scheint Schwangerschaft regelmäßig einen Härtefall zu begründen, durch den von einer Aufhebung der Ehe abgesehen werden kann. Das könnte ein zusätzlicher Anreiz sein, möglichst früh nach der Heirat (ab 16) ein Kind zu entbinden. Von Nordrhein-Westfalen wurden dazu schon erste Hinweise berichtet.

 

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