Das 3-jährige Theaterprojekt "Mein Herz gehört mir" hat zum Ziel, präventiv gegen Frühehen und Zwangsverheiratung von Jugendlichen in Berlin vorzugehen. Mithilfe eines extra für das Projekt konzipierten Theaterstückes sollen Jugendliche gestärkt und sensibilisiert werden sowie alternative Denk- und Handlungsmuster spielerisch erlernen und verinnerlichen können.
Zielgruppe sind insbesondere Mädchen und junge Frauen zwischen 14 und 21 Jahren, aber auch Jungen und junge Männer. Weiterhin soll das soziale Umfeld der SchülerInnen wie Lehrkräfte, SchulsozialarbeiterInnen und Eltern sensibilisiert, aufgeklärt und gestärkt werden. Mit einer Auftaktveranstaltung am Brandenburger Tor am 25.11.2020 sowie einer Social Media Kampagne unter dem Hashtag #meinherzgehörtmir soll eine breite Öffentlichkeit angesprochen und über Frühehen und Zwangsverheiratung aufgeklärt werden. Die konkrete Schularbeit beginnt ab Sommer 2021. Das Projekt wird durch die Aktion Mensch gefördert.
Die Öffentlichkeit sensibilisieren:
Veranstaltung am 25.11.20 vor dem Brandenburger Tor und Social Media Kampagne
Die diesjährige Fahnenaktion am 25.11.2020, dem internationalen Tag „NEIN zu Gewalt an Frauen“ wird dieses Jahr unter dem Motto „Mein Herz gehört mir - gegen Zwangsheirat und Frühehen“ stattfinden. In Berlin ist unsere Veranstaltung am Brandenbuger Tor am 25.11.2020 um 14.00 Uhr gleichzeitig die Auftaktveranstaltung unseres Berliner Schulprojektes „Mein Herz gehört mir“. Im Rahmen der Veranstaltung soll eine breite Öffentlichkeit über das Thema Zwangsverheiratung und Frühehen sensibilisiert und aufgeklärt werden. Gemeinsam mit Schulklassen wollen wir auf die Menschenrechtsverletzung Zwangsverheiratung und Frühehen aufmerksam machen, die Situation von betroffenen Mädchen und Frauen in Deutschland aufzeigen und zusammen Luftballons mit Wünschen für Betroffene von Zwangs- und Frühehen steigen lassen. Das Mädchen- und Jungensportzentrum Centre Talma wird außerdem mit einer Gruppe von Jugendlichen zu „Respect Girls“ tanzen.
Unter dem Hashtag #meinherzgehörtmir wird von TDF zum 25.11.20 eine Social-Media-Kampagne gegen Zwangsverheiratung und Frühehen initiiert, mit dem Ziel, dass insbesondere junge Menschen ein persönliches Statement gegen Zwangsheirat posten und somit ihre Peergroup sensibilisieren, zum anderen sollen bedrohte Jugendliche erfahren: "Ihr seid nicht alleine, wir unterstützen Euch, und wir sind viele!".
Die Schulveranstaltungen ab Sommer 2021
Im Rahmen des Projektes sollen ab Sommer 2021 insgesamt 20 Aufführungen mit anschließenden Workshops zum Thema Zwangsverheiratung und Frühehen in Berliner Schulen stattfinden. Mit der Methode des Forumtheaters werden Jugendliche zur aktiven Teilnahme aufgefordert und können somit gewaltfreie Lösungen von dargestellten Szenen selbst erarbeiten. An den Schulveranstaltungen sollen jeweils 60-70 SchülerInnen pro Aufführung teilnehmen können. In anschließenden Workshops, die von drei ausgebildeten TheaterpädagogInnen sowie einer externen Beraterin geleitet werden, werden die Inhalte weiter vertieft. Die Jugendlichen werden außerdem über ihre Rechte informiert sowie über die Möglichkeiten, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen. Parallel zu den Workshops können sich Lehrkräfte und SchulsozialarbeiterInnen gemeinsam mit einer erfahrenen Referentin von TDF über die Möglichkeiten der Prävention und Hilfestellung für betroffene SchülerInnen informieren und austauschen. Außerdem wird ein extra für das Projekt konzipierter Leitfaden für Lehrkräfte verteilt.
Im ersten Projektjahr werden in Zusammenarbeit mit einem Mädchenbeirat von drei erfahrenen TheaterpädagogInnen die Szenen erarbeitet, die im Rahmen des Theaterprojektes in Schulen aufgeführt werden. Außerdem werden Materialien für die Zielgruppen erstellt. Der Kontakt zu den Schulen wird hergestellt und Termine vereinbart, die im 2. und 3. Projektjahr (ab Sommer 2021) umgesetzt werden.
Sollten Sie bereits Interesse an einer Schulaufführung des Theaterstückes „Mein Herz gehört mir“ an Ihrer Schule in Berlin ab Sommer 2021 haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an: ehrverbrechen@frauenrechte.de
Sensibilisierung des Umfeldes
Auch das Umfeld der SchülerInnen soll sensibilisiert und aufgeklärt werden. Neben der Sensibilisierung und Schulung der Lehrkräfte und SchulsozialarbeiterInnen sollen auch die Eltern erreicht werden. Um diese Zielgruppe zu erreichen, sind Schulungen von Kiez- bzw. Stadtteilmüttern in Berlin geplant, die wiederum die Inhalte der Schulungen direkt in die Familien tragen und dort tabuisierte Themen insbesondere bei den Müttern ansprechen können. Für die Zielgruppe der Eltern sollen Broschüren in vier verschiedenen Sprachen entwickelt werden, die von den Kiez- bzw. Stadtteilmüttern verteilt werden.
Zum Hintergrund: Dringend notwendige Präventionsarbeit an Schulen
Laut einer 2018 veröffentlichten Umfrage des Arbeitskreises Zwangsverheiratung Berlin wurden 2017 570 Fälle von versuchter oder erfolgter Zwangsverheiratung in Berlin gemeldet. Dies sind 19% mehr Fälle als bei der letzten Befragung 2013 (460 Fälle). Die meisten Betroffenen waren zwischen 16 und 21 Jahren alt, Mädchen und junge Frauen bildeten mit 93 % die Mehrheit. Die Dunkelziffer wird von ExpertInnen um ein Vielfaches höher eingeschätzt, weil viele Betroffenen sich nicht trauen, Hilfe zu suchen oder nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Zudem sind in den letzten Jahren viele Menschen nach Deutschland geflüchtet, von denen einige bereits minderjährig verheiratet waren.
Eine aktuelle bundesweite Studie zu Zwangsverheiratung und Frühehen existiert nicht. In vielen Fällen sind die Jugendlichen noch nicht volljährig, daher von ihren Eltern in besonderem Maße abhängig und oft der Gewaltsituation innerhalb der Familie ausgeliefert. 98% der von einer Zwangsheirat Betroffenen haben laut einer Studie des BMFSFJ einen Migrationshintergrund. Die Familien leben häufig in sehr streng patriarchalischen Strukturen, in welchen geschlechtsspezifische Rollenverteilungen üblich sind: Die Mädchen sollen sich keusch verhalten, von ihnen hängt die Ehre der gesamten Familie ab, weshalb sie streng, teils mit Gewalt, kontrolliert werden. Aber auch Jungen, die sich nicht "rollenkonform" verhalten, indem sie z. B. homosexuell sind, sind von Zwangsverheiratung bedroht.
Die Schule ist häufig der einzige Ort, den die Jugendlichen außerhalb des Elternhauses aufsuchen dürfen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Präventionsarbeit hier ansetzt. Obwohl die Verheiratung Minderjähriger sowie Zwangsverheiratungen verboten sind, finden sie im Rahmen einer traditionellen/religiösen Zeremonie in Deutschland statt, oder die Jugendlichen werden in das Herkunftsland der Familie gelockt und dort verheiratet. Häufig haben sie keine Möglichkeiten mehr, der Gewaltsituation zu entkommen. Umso wichtiger ist, dass durch weitreichende Präventions- und Aufklärungsarbeit die SchülerInnen lernen, wie sie sich schützen und an wen sie sich wenden können. Auch ist es notwendig, dass sie alternative Denk- und Handlungsmuster lernen, da auch die Jugendlichen patriarchalische Rollenmuster bereits von den Eltern übernommen und ungefragt verinnerlicht haben. So berichten Lehrkräfte, dass Minderjährige ihre Verlobungen als "normal" empfinden. Auch werden häufig die Brüder als "Aufpasser" der Schwestern eingesetzt, die Verstöße sofort den Eltern berichten, Gleichaltrige kontrollieren sich untereinander, ob das Verhalten "ehrenvoll" ist. Weiterhin sollen auch die Lehrkräfte sensibilisiert werden, erste Warnsignale wahrzunehmen sowie zu wissen, wie im konkreten Fall vorzugehen ist. Viele Lehrkräfte fühlen sich mit der Problematik alleine gelassen bzw. überfordert. Außerdem ist es wichtig, auch die Zielgruppe der Eltern zu erreichen, damit langfristig der Kreislauf durchbrochen wird. Der schwierige Zugang zu der Zielgruppe soll über die Kiez- bzw. Stadtteilmütter sowie IntegrationslotsInnen erfolgen, die direkt in die Familien gehen und tabuisierte Themen ansprechen können.
Stand: 10/2020