STOP Frühehen!
Foto: © evgenyatamanenko - Fotolia.comDas Referat Gewalt im Namen der Ehre arbeitet seit Oktober 2014 unter dem Motto "STOP Frühehen" verstärkt zu der Problematik. Dazu hat TERRE DES FEMMES-Expertin Monika Michell ein Interview gegeben. Wie kann TERRE DES FEMMES zur Beseitigung des globalen Problems „Frühehe“ beitragen? Was kann, muss getan werden, um Mädchen (und Jungen) vor einer Frühehe in Deutschland zu schützen?
Interview mit der TERRE DES FEMMES-Fachreferentin Monika Michell
TERRE DES FEMMES: TERRE DES FEMMES hat sich seit Oktober 2014 innerhalb des Themenbereiches Gewalt im Namen der Ehre den Schwerpunkt Frühehen vorgenommen. Im Zusammenhang mit der Verheiratung Minderjähriger werden die Begriffe „Frühehe“ und „Kinderehe“ benutzt. TERRE DES FEMMES spricht von „Frühehen“. Warum habt ihr euch für diesen Begriff entschieden?
Monika Michell: Die Verheiratung von Minderjährigen ist weltweit ein riesengroßes Problem, nicht nur in Ländern des Südens wie Subsahara-Afrika oder Asien. Auch in Europa und Deutschland werden Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Es gibt jedoch den einen Unterschied, dass in Deutschland in der ganz überwiegenden Mehrheit die 15-, 16-, 17-Jährigen davon betroffen sind, also Jugendliche, und nur in Ausnahmefällen auch 13- oder 14-Jährige bzw. noch jüngere Mädchen. Dem gegenüber ist es z.B. in Südasien keine Seltenheit, dass Kinder, also die unter 14-Jährigen verheiratet werden.
Der zweite Punkt ist der, dass es weltweit ganz unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, wann die Volljährigkeit erreicht wird und die Kindheit somit endet. So definiert die UN-Kinderrechtskonvention ein Kind zwar als Person unter 18 Jahren, macht aber das Zugeständnis, dass einzelne Länder das Volljährigkeitsalter gesetzlich anders regeln können. Im Iran beispielsweise gelten Mädchen mit neun Jahren als volljährig, Jungen mit 15 Jahren. Die Heirat eines 10-jährigen Mädchens im Iran kann streng genommen also nicht als Kinderheirat angesehen werden.
Die Bezeichnung Frühehe berücksichtigt neben dem Alter auch die persönliche Entwicklung einer Person. Es geht darum, dass ein Mädchen tatsächlich in der Lage ist (physisch, emotional etc.), solch eine Entscheidung zu einer Heirat zu treffen, mit allen Konsequenzen, die diese bedeutet. Aus diesen zwei Gründen haben wir uns für den Begriff „Frühehe“ entschieden.
TERRE DES FEMMES: 2008 sorgte die Scheidung der 10-jährigen Najoud aus Jemen international für Aufsehen. Najoud ist nicht die Einzige, die als Kind von ihren Eltern verheiratet wurde. Laut Unicef leben weltweit mehr als 700 Millionen Frauen, die vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden. Wie kann TERRE DES FEMMES als deutsche NRO zur Beseitigung dieses globalen Problems beitragen?
Monika Michell: Natürlich ist bei solch einem großen Problem der Einfluss einer einzelnen NRO begrenzt. Daher ist es wichtig, sich zu vernetzen. TERRE DES FEMMES ist z.B. Mitglied in dem globalen Netzwerk „Girls Not Brides“, das sich auf verschiedenen Ebenen für ein Ende von Kinderheiraten einsetzt. Momentan im Fokus steht dabei die Verabschiedung der Nachhaltigen Entwicklungsziele auf UN-Ebene, die definieren sollen, was die Weltgemeinschaft bis 2030 erreichen will. Ein Ziel muss auf jeden Fall die Abschaffung von Frühehen sein. Dafür hat Girls Not Brides einen offenen Brief an den UN-Generalsekretär Ban Ki-moon geschrieben, unterzeichnet von über 170 Mitgliedsorganisationen!
Darüber hinaus können wir jedoch als Einzelorganisation Druck auf die deutsche Bundesregierung ausüben, sich in den entscheidenden bi- und multilateralen Verhandlungen ebenfalls für dieses Ziel einzusetzen.
Genauso wichtig wie diese Lobbyarbeit ist es jedoch auch, über das Problem zu informieren und aufzuklären. Wenn es kein Bewusstsein dafür gibt, kann auch keine Bewegung dagegen entstehen. So stellen wir auf unserer Homepage Informationen zu einzelnen Ländern zusammen und berichten auch, welche Initiativen vor Ort es gegen Frühverheiratung gibt. Wir bewerben durch eine Kooperation den Film „Difret”, der einen wahren Fall aus Äthiopien behandelt und sehr gut die Ursachen dieser Menschenrechtsverletzung aufzeigt: überkommene Traditionen, patriarchale Strukturen, nicht vorhandene Gleichberechtigung von Frau und Mann, Armut, mangelnde Bildung, fehlende Durchsetzung der Gesetze.
Ganz konkret unterstützen wir aktuell zwei Projekte in Kamerun und der Türkei, die sich speziell gegen die Verheiratung von Mädchen einsetzen. Übrigens werden sich beide Projekte bei einer öffentlichen Veranstaltung am 29. Mai im DGB-Gewerkschaftshaus in Berlin präsentieren.
TERRE DES FEMMES: In Deutschland gilt 18 als gesetzlich vorgeschriebenes Mindestheiratsalter. Sind mit Minderjährigen geschlossene Ehen in Deutschland eine Ausnahme?
Monika Michell: In Deutschland ist es mit Genehmigung des Familiengerichts möglich, schon mit 16 Jahren zu heiraten, vorausgesetzt, der/die PartnerIn ist mindestens 18 Jahre alt. Laut Statistischem Bundesamt gab es 2013 insgesamt 114 Minderjährigenhochzeiten, 2012 waren es 139. Der Anteil der minderjährigen Männer ist dabei verschwindend gering (sieben im jeweiligen Jahr). Bei diesen Zahlen handelt es sich jedoch ausschließlich um standesamtlich geschlossene Ehen. Wir wissen aber, dass Minderjährige überwiegend in einer sozialen oder religiösen Zeremonie zwangsverheiratet werden. Das ist das Ergebnis einer Studie[1] des Bundesfamilienministeriums, die 2011 veröffentlicht wurde. Bei diesen Eheschließungen gibt es bezüglich eines Mindestheiratsalters überhaupt keine Kontrollmöglichkeit. Für die Betroffenen ist es aber in der Konsequenz völlig unerheblich, in welcher Form sie verheiratet wurden, im Gegenteil: Religiöse Hochzeiten haben oft ein größeres Gewicht als die zivile Ehe. Noch ein interessantes Detail am Rande: Die katholische Kirche hat das Mindestheiratsalter für Mädchen bei 14 Jahren festgelegt, für Jungen bei 16.
Auch wenn es laut offizieller Statistik in Deutschland keine katholischen Eheschließungen in dieser Altersgruppe gibt, finden wir das dadurch ausgesendete Signal höchst bedenklich. Wir sind daher auf die Deutsche Bischofskonferenz zugegangen, die allerdings keinen Änderungsbedarf erkennen will.
TERRE DES FEMMES: Was kann, muss getan werden, um Mädchen (und Jungen) vor einer Frühehe in Deutschland zu bewahren?
Monika Michell: Eine unserer Hauptforderungen lautet: Das Mindestheiratsalter muss auf 18 Jahre festgelegt werden, OHNE Ausnahmen. Damit würde Deutschland auch die Empfehlungen von internationalen ExpertInnen umsetzen (UN-Kinder- und -Frauenrechtskomitee, UN-Bevölkerungsfonds, UNICEF, Human Rights Watch), die bei der Durchsetzung eines Mindestheiratsalters einen entscheidenden Faktor im Kampf gegen Frühehen sehen. Bei insgesamt 114 (standesamtlichen) Hochzeiten im Jahr 2013, bei denen einer der EhegattInnen minderjährig war, ist es unserer Meinung nach vertretbar, dieses Mindestheiratsalter durchzusetzen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dadurch gleichzeitig erzwungene Frühehen verhindert werden.
Da wir im Moment keine Möglichkeit sehen, auch bei religiösen und sozialen Eheschließungen ein Mindestheiratsalter einzuführen bzw. auch durchzusetzen, fordern wir eine konsequentere strafrechtliche Verfolgung von Zwangsverheiratungen. Momentan gilt der 2011 eingeführte Straftatbestand nur für Ehen, die unter Zwang standesamtlich geschlossen wurden. Das ist mit den Erkenntnissen aus der weiter oben erwähnten Studie absolut nicht nachzuvollziehen. Der Straftatbestand (§ 237 StGB) muss daher erweitert werden und auch eheähnliche Verbindungen umfassen. Wir wissen dabei die Berliner Senatorin für Frauen, Dilek Kolat, auf unserer Seite, und sind bereits in Kontakt mit dem Bundesjustizministerium. Dort müssen wir allerdings noch verstärkt Überzeugungsarbeit leisten.
Die rechtliche Komponente ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Präventiv müssen spezialisierte Beratungs- und Unterbringungseinrichtungen erhalten und ausgebaut werden. Fachkräfte müssen sensibilisiert und geschult werden. Gerade RichterInnen am Familiengericht sollten zu diesem Thema fortgebildet werden. Mädchen, die (potenziell) betroffen sind, müssen über ihre Rechte aufgeklärt werden, und sie sollten wissen, wohin sie sich im Notfall wenden können. Dazu gab es 2014 ein sehr erfolgreiches Theaterprojekt in Baden-Württemberg, das TERRE DES FEMMES zusammen mit der Theatergruppe Mensch: Theater! und der mobilen Beratungsstelle YASEMIN durchgeführt hat. Anhand von einzelnen Szenen, die typische Situationen aus dem Alltag von Jugendlichen darstellten, wurden Themen wie Homosexualität, Jungfräulichkeit und Zwangsverheiratung angesprochen und mit den Jugendlichen diskutiert.
TERRE DES FEMMES: Wenn junge Mädchen in Deutschland so oft von einer Zwangsheirat bedroht/betroffen sind, können wir davon ausgehen, dass die Situation in anderen europäischen Ländern ähnlich ist. Gibt es Zahlen?
Monika Michell: Zahlen für Europa sind tatsächlich ein großes Problem. Eine vergleichbare Studie wie die des Bundesfamilienministeriums gibt es meines Wissens in keinem anderen europäischen Land. Es gibt aber Zählungen einzelner Organisationen. So hat der Wiener Verein Orient Express 2012, 89 Frauen zum Thema Zwangsheirat beraten.
Die von der britischen Regierung getragene „Forced Marriage Unit“ hat 2013 nach eigenen Angaben in 1300 Fällen von (angedrohter) Zwangsheirat geholfen. Auch in Ländern wie Schweden, den Niederlanden oder Frankreich ist Zwangsverheiratung ein Thema. Das wissen wir durch persönlichen Kontakt mit Organisationen vor Ort. Um dieses europäische Problem endlich auch mal in Zahlen fassen zu können bzw. mehr über die jeweils besonderen Motive, Betroffenengruppen, Altersstruktur usw. zu erfahren, fordern wir eine Studie zu Umfang und Ausmaß von Zwangsverheiratung in Europa, die bspw. von EIGE, dem European Institute for Gender Equality durchgeführt werden könnte.
TERRE DES FEMMES: Gibt es Länder in Europa, denen wir nacheifern könnten?
Monika Michell: Das ist nicht leicht zu beantworten. Grundsätzlich glaube ich, dass alle Länder noch Nachholbedarf in Sachen Aufklärung und Sensibilisierung der (Fach-) Öffentlichkeit sowie bei der direkten Unterstützung der Betroffenen haben. Was in Großbritannien allerdings schon vorbildlich ist, ist die Tatsache, dass es mit der weiter oben erwähnten „Forced Marriage Unit“ ein auf Regierungsebene angesiedeltes Beratungs- und Unterstützungsangebot gibt. Solch eine Stelle hat natürlich ganz andere Möglichkeiten der Unterstützung und Intervention, vor allem wenn es um Auslandsverschleppungen geht. Es ist darüber hinaus ein wichtiges Zeichen, dass das Problem Zwangsheirat als so dringend angesehen wird, dass sich die Regierung selbst dieses Problems annimmt. Das würde ich mir auch für andere Länder, auch für Deutschland wünschen.
Quellen:
[1] Bei den 13- bis 17-Jährigen (n=77) gaben 10,4% bei der Art der (geplanten) Zwangsheirat eine standesamtliche Eheschließung an, 53,2% eine religiöse oder soziale Eheschließung, sowie 36,4% sowohl als auch. In: Mirbach, Thomas/Schaak, Torsten/Triebl, Katrin: Zwangsverheiratung in Deutschland. Anzahl und Analyse von Beratungsfällen, Hamburg, 2011, S. 99.