In vielen Ländern der Erde, vor allem in Afrika und Asien, ist es üblich, Mädchen schon sehr früh, oft noch als Kind, zumindest jedoch vor dem 18. Geburtstag zu verheiraten. Für dieses Phänomen haben sich international die Begriffe early bzw. child marriage (Früh-/Kinderehe) durchgesetzt. Diese Frühehen sind eine Form der Zwangsverheiratung, denn Kinder können sich noch nicht angemessen wehren, bzw. können die Folgen einer Verheiratung nicht abschätzen. Für junge Mädchen kann eine große Feier im schönen Kleid mit vielen Geschenken verlockend sein, so dass sie einer Heirat zustimmen. Was eine Ehe dann aber tatsächlich für sie bedeutet, Schulabbruch, die Arbeit im Haushalt, sexuelle Gewalt, frühe Schwangerschaft, das Ende der Kindheit, erahnen sie häufig nicht einmal ansatzweise. In der Regel bleiben sie ihr ganzes Leben (ökonomisch) abhängig von ihrem Ehemann und „vererben“ so Armut und geringe Bildungsmöglichkeiten an ihre Kinder.
Bildung schützt und ist ein Menschenrecht
Um Frühehen und die damit verbundenen Konsequenzen zu verhindern, ist Bildung von entscheidender Bedeutung. Bildung schützt vor Gewalt und fördert die Selbstbestimmung sowie die (ökonomische) Unabhängigkeit von Mädchen. Mädchen und Frauen, die zur Schule gehen beziehungsweise gegangen sind, erfahren seltener häusliche Gewalt oder sexuelle Belästigung. Ein Schulbesuch verringert die Gefahr, dass Mädchen zwangsverheiratet werden und früh Kinder bekommen. Schon der Abschluss der Grundschule führt dazu, dass Mädchen nicht zu früh heiraten und dass sie bewusster mit Themen wie Schwangerschaft, Verhütung und Familienplanung umgehen. Bildung ermöglicht es Mädchen außerdem, ihren Handlungsspielraum zu erweitern und restriktive Geschlechterrollen zu hinterfragen und somit auch zu verändern.
Das Recht auf Bildung ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben (Artikel 26). Darüber hinaus haben sich 189 Staaten, die die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert haben, dazu verpflichtet, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Bereich der Bildung zu beseitigen.
(Alters-)Grenzen setzen
Weltweit gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, wann die Volljährigkeit erreicht wird und die Kindheit somit endet. So definiert die UN-Kinderrechtskonvention ein Kind zwar als Person unter 18 Jahren, macht aber das Zugeständnis, dass einzelne Länder das Volljährigkeitsalter gesetzlich anders regeln können. Im Iran beispielsweise gelten Mädchen mit neun Jahren als volljährig, Jungen mit 15 Jahren. Die Heirat eines 10-jährigen Mädchens im Iran kann streng genommen also nicht als Kinderheirat angesehen werden.
Daher ist es wichtig, ein Mindestheiratsalter festzulegen, das Mädchen schützt und ihnen die Chancen auf Bildung gewährt, weltweit. Die ExpertInnen sind sich dabei einig: Das UN-Kinderrechts- und Frauenkomitee, UNICEF, UNFPA (Weltbevölkerungsfonds), Human Rights Watch und auch TERRE DES FEMMES sagen, das Mindestheiratsalter muss bei 18 Jahren liegen, ohne Ausnahmen.
Frühehen sind ein großes Problem. Aktuell leben weltweit mehr als 700 Millionen (700.000.000) Frauen, die vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden. Davon waren ca. 250 Millionen noch nicht einmal 15 Jahre alt. Diese Zahlen veröffentlichte UNICEF im Juli 2014. Und sie zeigten Wirkung: Nach einem langen Prozess, der unter der Maxime „leaving no one behind“ (niemanden zurücklassen) stand, wurde die Abschaffung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen als Unterziel in die 2030-Agenda für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen aufgenommen.
Die 2030-Agenda mit 17 Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) ist das Nachfolgeprojekt der Millennium-Entwicklungsziele (MDGs), die 2001 definiert wurden und bis zum Jahr 2015 erreicht werden sollten. Neben der Bekämpfung von Armut und HIV/Aids, der Senkung der Kindersterblichkeit und Primarschulbildung für alle war auch die Gleichstellung der Geschlechter/Stärkung der Rolle der Frauen als ein Ziel genannt. Allerdings wurde die Abschaffung von Früh- und Kinderehen nicht explizit erwähnt.
Im September 2015 hat die UN-Generalversammlung nun die Nachhaltigen Entwicklungsziele verabschiedet, die die MDGs fortschreiben und bis 2030 erreicht werden sollen. Unter den 17 Hauptzielen findet sich unter Ziel 5 „Geschlechtergleichstellung erreichen und das Potenzial aller Frauen und Mädchen fördern“ das Unterziel 5.3 Beseitigung aller schädigenden Praktiken wie zum Beispiel Kinder-, Früh- und Zwangsehen sowie weibliche Genitalverstümmelung.
Die SDGs sind im Gegensatz zu den MDGs mit der Intention der Allgemeingültigkeit konzipiert. Dass bedeutet, dass ALLE Länder (d.h. die Länder des Südens UND des Nordens) aufgefordert sind, diese Ziele zu erreichen, auch Deutschland.
Auch in Deutschland ist es möglich, bereits mit 16 Jahren zu heiraten, vorausgesetzt, der künftige Ehegatte ist volljährig und das Familiengericht erteilt eine Befreiung vom Volljährigkeitserfordernis. Dies sehen wir sehr kritisch, vor allem im Hinblick auf die Zahlen, die in der Studie des Bundesfamilienministeriums über Umfang und Ausmaß von Zwangsheirat in Deutschland im Jahr 2011 veröffentlicht wurden: Ein Drittel der 3.443 betroffenen Personen, die sich im Jahr 2008 wegen angedrohter oder vollzogener Zwangsheirat an Beratungsstellen gewandt haben, war minderjährig. Zwar wurden 53% der minderjährigen Betroffenen ausschließlich in einer religiösen oder sozialen Zeremonie zwangsverheiratet bzw. sollten in solch einer Zeremonie zwangsverheiratet werden. Jedoch gaben immerhin 10,5% der Betroffenen an, die Zwangsverheiratung habe bzw. solle vor einem Standesamt stattfinden, bei 36,5% der Betroffenen waren sowohl eine religiöse als auch standesamtliche Eheschließung (unter Zwang) geplant bzw. haben diese stattgefunden.
Ein weiteres Ergebnis der Studie: 41% der Betroffenen hatten die deutsche Staatsangehörigkeit.
Wenn man sich die Statistik des Bundesamtes zum Heiratsalter der Eheschließenden im Jahr 2012 (132 minderjährige Frauen) und 2013 (107) anschaut und mit den Erkenntnissen der Studie vergleicht, muss man davon ausgehen, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Eheschließungen von Minderjährigen unter Zwang stattgefunden haben.
Zudem ist Deutschland aufgefordert, sein (politisches und ökonomisches) Gewicht einzusetzen, um weltweit ein Ende von Frühehen durchzusetzen. Dies kann es jedoch nicht glaubwürdig tun, solange es hierzulande noch die Möglichkeit gibt, vor 18 Jahren zu heiraten. Auch in Europa darf Deutschland nicht zurückfallen, wo bisher allein Schweden und die Schweiz ein Mindestheiratsalter von 18 Jahren ohne Ausnahmen eingeführt haben.
Natürlich stellt sich die Situation in jedem Land, in jeder Region anders dar. Es gibt jedoch bestimmte Faktoren, von denen mindestens einer bei der Verheiratung von Mädchen immer eine Rolle spielt: Armut, Tradition, patriarchale Strukturen, mangelnde Bildung.
Mädchen aus armen Regionen sind für ihre Familien eine finanzielle Last. Wenn die Töchter jung und jungfräulich verheiratet werden, bekommen die Familien in manchen Ländern einen hohen Brautpreis. Wo Traditionen und patriarchalische Wertvorstellungen eine große Rolle spielen, müssen Mädchen jungfräulich in die Ehe gehen, weil sie sonst das Ansehen der Familie schädigen. Um diese Gefahr so gering wie möglich zu halten, werden die Mädchen früh verheiratet, in vielen Ländern zusätzlich auch noch an ihren Genitalien verstümmelt. Außerdem besteht eine Wechselwirkung zwischen Bildung und Frühehen: Je geringer die Bildung, desto höher die Wahrscheinlichkeit, bis zum 18. Lebensjahr verheiratet zu sein.
Um eine genauere Vorstellung von dem Problem zu bekommen, hier zwei Beispiele:
Zum Beispiel Nicaragua
Nicaragua ist das zweitärmste Land Lateinamerikas: 42,5% der Menschen leben von maximal $2 am Tag. Die neoliberale politische Ausrichtung von 1980-1996 hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. 1992 wurde öffentliche Bildung privatisiert. Weitere Strukturmaßnahmen nach Vorgabe des Internationalen Währungsfonds führten dazu, dass Schulen Schulgebühren erhoben und Eltern ihre Kinder daraufhin nicht mehr in die Schule schickten, um Geld zu sparen. Immer noch sind die schulischen Kapazitäten besonders in den ländlichen Regionen nicht ausreichend, die Ausstattung ist in der Regel schlecht und es mangelt an qualifiziertem Lehrpersonal. Auch wenn 91,5% der Kinder die Grundschule (6 Jahre) besuchen, erreichen gerade einmal 43% einen Abschluss. Im Jahr 2006 waren 23% der über 15-Jährigen AnalphabetInnen. Der Human Development Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (Wohlstandsindikator, der die Dimensionen Bildungsindex, Lebensstandard und –erwartung einbezieht) sieht Nicaragua auf Platz 132 von 187.
Gewalt gegen Frauen ist in Nicaragua ein großes Problem. 67% der Frauen haben Gewalt erlebt. Diese reicht von psychischer über körperliche und sexuelle Gewalt bis hin zu Mord. Aber auch strukturelle und institutionelle Gewalt, die auf dem patriarchalen System des Machismo gründen, benachteiligen die Frauen in Nicaragua wie in ganz Lateinamerika. Die Frau hat sich dem Mann unterzuordnen, die Männer versuchen über die Gewalt, ihre Macht immer wieder zu bestätigen.
Dieser Dreiklang aus Machismo, Armut und mangelnder Bildung begünstigt die frühe Verheiratung von Mädchen in Nicaragua. 41% der Mädchen heiraten vor ihrem 18. Geburtstag, 10% noch bevor sie 15 Jahre alt sind. Laut Familiengesetz sind Frauen und Männer berechtigt, die Ehe mit Vollendung des 18. Lebensjahres einzugehen. Es gibt allerdings die Ausnahme, dass mit Zustimmung der Eltern bzw. eines gesetzlichen Vertreters Mädchen auch schon mit 16 Jahren heiraten können. Diese Regelung stellt, so paradox es klingt, eine „Verbesserung“ dar, denn bis April 2015 konnten Mädchen mit besagter Zustimmung sogar schon mit 14 Jahren heiraten. Unsere Partnerorganisation MIRIAM setzt sich schon seit über 25 Jahren für das Recht auf ein Leben frei von Gewalt und das Recht auf Bildung ein und trägt somit auch zur Bekämpfung von Frühehen bei. Allerdings ist der Machismo in Nicaragua so tief verwurzelt, dass noch viel Aufklärung und Sensibilisierung nötig ist, um ein Unrechtsbewusstsein, auch bei Eltern, für diese Gewaltform zu schaffen und eine Gesetzesänderung zu bewirken. Dazu vernetzt sich MIRIAM auch mit anderen Organisationen vor Ort.
Zum Beispiel Sierra Leone
Sierra Leone ist eines der ärmsten Länder der Welt. 70% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, d.h. mit weniger als 1$ pro Tag. Diese extreme Armut ist heutzutage noch die Folge des Bürgerkrieges, der zwischen 1999-2002 in Sierra Leone herrschte und beinahe das gesamte Land verwüstete. 59% der Menschen in Sierra Leone sind AnalphabetInnen, die Arbeitslosenquote liegt bei 80%. Der Human Development Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (Wohlstandsindikator, der die Dimensionen Bildungsindex, Lebensstandard und –erwartung einbezieht) sieht Sierra Leone auf Platz 177 von 187.
Aufgrund von Gewohnheitsrechten und patriarchaler Strukturen werden die meisten Frauen in Sierra Leone wie Bürgerinnen zweiter Klasse behandelt. Ihnen wird regelmäßig der Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Beschäftigung verwehrt. Hinzu kommt, dass in Sierra Leone etwa 90% der Mädchen und Frauen genitalverstümmelt sind. Female Genital Mutilation (FGM) wird in fast allen ethnischen Gruppen praktiziert und ist ein Teil von Ritualen, die von Frauenbünden organisiert werden. Damit werden Mädchen in die Erwachsenenwelt aufgenommen und sind somit „bereit“ für die Ehe.
Sierra Leone hat eine der höchsten Raten an Frühehen weltweit. 44% der Mädchen heiraten noch vor ihrem 18., 18% sogar vor ihrem 15. Geburtstag. Ehen, die nach FGM geschlossen werden, sind üblicherweise von den Eltern der Mädchen arrangiert worden. Männer, die manchmal doppelt so alt sind wie die Mädchen oder sogar deren Väter sein könnten, halten um ihre Hand an und werden dann ihre Ehemänner.
In diesen Ehen erleben die Mädchen nicht nur Häusliche Gewalt, sie werden auch (zu) früh schwanger und befinden sich in einer kompletten Abhängigkeit gegenüber ihrem Ehemann. So können die Frauen sich weder emanzipieren noch ihr Potenzial voll ausschöpfen, was letztlich auch den sozialen und wirtschaftlichen Wachstum Sierra Leones untergräbt.
In Sierra Leone beträgt das Mindestheiratsalter gemäß dem Child Right Act (2007) 18 Jahre, allerdings wird dieses Gesetz durch das Gewohnheitsrecht (Customary Marriage and Divorce Act, 2007) ausgehebelt. Obwohl das Mindestheiratsalter auch in dieser Gesetzgebung auf 18 Jahre festgelegt ist, erlaubt es die Ausnahme im zweiten Abschnitt durchaus, Mädchen mit dem Einverständnis eines gesetzlichen Vertreters früher zu verheiraten. Aufgrund der weit verbreiteten Praxis, dass Eltern ihre Kinder in arrangierte Ehen zwingen, muss diese Ausnahme, muss das Gewohnheitsrecht abgeschafft werden! Unsere Partnerorganisation AIM (Amazonian Initiative Movement) setzt sich dafür ein, indem auch sie Unterschriften vor Ort sammelt und Aufklärungsarbeit zu den Folgen von FGM und Frühehen leistet.