Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf häusliche Gewalt und den Alltag einer Interventionsstelle?

Beratung häusliche Gewalt CoronaBeratung, Foto: BIG e.V.Sarah Trentzsch, Koordinatorin bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen – BIG e.V. im Interview

Am 22. November 2021 wurden die polizeilichen Zahlen zur Partnerschaftsgewalt aus dem Pandemie-Jahr 2020 veröffentlicht. Es wurde wieder einmal deutlich: Häusliche Gewalt ist ein massives Problem. Seit Beginn der Ergebung durch das Bundeskriminalamt steigen die Zahlen jedes Jahr, so auch während der Corona-Zeit.

Auch bei der “Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen - BIG e.V. “ ist die Nachfrage für Telefon-Beratungen 2020 gestiegen, und zwar insgesamt um 5%. Nach dem ersten Lockdown betrug der Anstieg sogar teilweise über 30%. Auch die Mobilen Beratungen, also aufsuchende Beratungen an einem sicheren Ort innerhalb Berlins und Begleitung zu Behörden, Gericht, Polizei im Rahmen der ersten Schritte aus der Gewaltsituation, sind von 332 auf 354 gestiegen. Besonders auffällig ist, dass die Nachfrage nach Online-Beratungen enorm zugenommen hat. Diese sind um über 200%, von 94 auf 336 Kontakte, angestiegen.

 

Sarah Trentzsch, Koordinatorin der „BIG e.V.”, stellt im folgenden Interview ihre Arbeit vor und schildert ihre Beobachtungen und Einschätzungen zu häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie. Die “Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen - BIG e.V.” unterstützt alle Frauen und deren Kinder, die in ihrer Beziehung Gewalt erleben, nach Trennung immer noch von ihrem Ex-Partner bedroht und belästigt werden oder Übergriffen ausgesetzt sind. 

TERRE DES FEMMES: Wie genau unterstützen Sie Betroffene?

Sarah Trentzsch, BIG e.V.: “Wir haben einmal die telefonische Hotline, täglich von 8-23 Uhr, wo gewaltbetroffene Frauen oder Personen aus deren Umfeld anrufen können. Wir beraten dann ganz nach Bedarf der AnruferInnen. Manche AnruferInnen haben Fragen, möchten vermittelt werden, einfach nur reden, brauchen eine Krisenintervention, psychosoziale Unterstützung oder eben auch einfach nur Informationen über ihre Rechte. Wenn eine Person anruft, weil sie mitbekommt, dass z.B. eine Bekannte häusliche Gewalt erlebt, beraten wir die auch gerne. Generell vermitteln wir auch sehr stark weiter, sowohl an Fachberatungsstellen, die nachhaltige Beratung gewährleisten oder an Schutzeinrichtungen, Krisen-Einrichtungen, juristische und medizinische Hilfe.

Außerdem haben wir noch eine Online-Beratung per E-Mail oder über das Beratungsportal “Beranet”1 und das Angebot der Mobilen Beratung für Frauen, die nicht von sich aus in die Beratungsstellen finden, weil sie zum Beispiel nicht so mobil sind, eine Verletzung haben, viele kleine Kinder haben oder auch, weil sie sehr stark kontrolliert werden und Angst haben, sich draußen zu bewegen. Dann können wir sie zum Beispiel bei der Hausärztin treffen, oder in der Kita oder im Park, oder wir begleiten sie im Rahmen der ersten Schritte zum Familiengericht, zur Polizei oder zu einer Behörde.

Tatsächlich gibt es viele Frauen, die gar nicht von sich aus ins Hilfenetz finden, weil sie vielleicht gar nichts davon wissen oder nicht wissen, wie das geht. Wir werden auch sehr viel angerufen von SozialarbeiterInnen, Beratungsstellen, Jugendamt, Jobcenter, Polizei, die dann eben sagen: “Wir haben hier eine Frau sitzen, die ist von Gewalt betroffen und möchte eine Beratung”. Dann fahren wir eben dahin und machen die Erstberatung und bieten je nach Bedarf die verschiedenen Hilfen an. Das ist ein speziell niedrigschwelliges Angebot im Rahmen der ersten Schritte aus der Gewalt.

Was für Veränderungen haben Sie seit Beginn der Corona-Pandemie bemerkt?

“Anfang 2020, nach dem ersten Lockdown, also so im April, Mai, Juni sind die Zahlen der Anruferinnen monatlich stark angestiegen. Besonders unsere online Beratung war plötzlich sehr gefragt. Und gegen Herbst haben sich die Zahlen wieder auf die ursprüngliche Zahl eingependelt, die wir monatlich hatten. Wir führen das darauf zurück, dass wir während des ersten Lockdowns wahnsinnig viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht haben und viele Pressanfragen an uns gerichtet wurden. Da waren wir dann auch ein bisschen überrumpelt, dass es plötzlich so ein massives Interesse gibt. Das hat sicherlich mit dazu geführt, dass viele Frauen und Einrichtungen dadurch von Hilfsangeboten wie unserer Hotline erfahren haben. Ein anderer Grund für den Anstieg an Beratungsanfragen kann natürlich auch sein, dass sich die Bedingungen in Familien, wo es sowieso schon häusliche Gewalt gab, während den Lockdowns verschärft haben.

Veränderungen gab es auch in der Zusammenarbeit mit den Behörden. Gut war, dass einige Dinge zum Beispiel beim Jobcenter oder Gericht auf einmal per Post erledigt werden konnten statt mit persönlichen Terminen, was unsere Arbeit deutlich erleichtert hat. Viele Behörden, wie Jobcenter, Jugendamt, Gericht, hatten mit den Lockdowns andere Öffnungszeiten und waren auf einmal viel schwerer erreichbar. Beim Jugendamt haben wir bis heute Schwierigkeiten, Kontakt aufzunehmen. Die Jugendämter haben zum Teil keine öffentlichen Sprechstunden mehr und sind auch sonst schlecht per Mail oder Telefon erreichbar. Wahrscheinlich sind die auch wahnsinnig überlastet durch die Pandemie, aber für die Betroffenen ist das sehr schwierig.”

Welchen Einfluss hatten die Kontaktbeschränkungen auf häusliche Gewalt?

“Also ich kann da nur spekulieren, aber wenn es ein Verbot gibt sich zu treffen und man eingeschränkt ist auf sein soziales Umfeld zuzugreifen, wie zum Beispiel Freunde, Familie, Nachbarn aber auch Hobbies und Vereine, bedeutet das natürlich schon eine starke Isolation. Für Betroffene von häuslicher Gewalt ist Isolation absolut das Schlimmste was ihnen passieren kann. Das was Frauen am allermeisten hilft und ganz wichtig ist, sind Kontakte, mit denen sie reden können, wo sie hin fliehen könnten, die sie niedrigschwellig unterstützen.

Von vielen Tätern ist es eine Strategie, die Frau zu isolieren und wenn das dann noch durch Kontaktbeschränkungen verschärft wird, verschärft es natürlich auch die Not, die die Frauen haben und vor allem fallen die kleinen Hilfen im Alltag einfach weg.”

Mehrere Stimmen und Studien weisen darauf hin, dass sich besonders die Gewalt gegen Kinder verschärft hat. Was konnten Sie beobachten?

„Seit 2020 haben wir ein Angebot speziell für von häuslicher Gewalt mitbetroffene Kinder. Die Einschätzung der Veränderung ist schwer mit der Pandemie in Zusammenhang zu bringen, weil es das Angebot vorher so nicht gab, aber seit diesem Jahr arbeiten zwei Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen in Ausbildung mit Müttern und ihren Kindern zu den Belastungen der Kinder durch die häusliche Gewalt und die merken, dass es einen riesigen Bedarf gibt an dieser speziellen Unterstützung. Die Kinder sind sehr durch den Wind und extrem belastet durch die Gewaltsituation und die Folgen. Sie sind traumatisiert und die Mütter oft überfordert. Während der Termine der Mütter betreuen wir beispielsweise die Kinder und können die Mütter zu kinderspezifischen Fragen beraten, wenn sie das möchten. Häufig ist es auch schwierig, weil der Kontakt zum Vater aufrechterhalten werden muss, obwohl weiterhin eine Gefährdung für die gesamte Familie besteht. Es gibt also einen enormen Bedarf für die Unterstützung der Kinder und sehr viel Nachfrage und braucht eigentlich noch viel mehr Angebote als wir im Moment leisten können.“

Wie hat das Hilfsnetz für Betroffene in der Corona-Pandemie funktioniert und an welchen Stellen gibt es noch Verbesserungsbedarf?

„Während des ersten Lockdowns wurde relativ unbürokratisch und unkompliziert vom Berliner Senat ein Hotel finanziert, in das gewaltbetroffene Frauen sehr schnell aufgenommen wurden. Das war eine gute Hilfe während der ersten 1,5 Jahre der Pandemie. Denn es bestand auch schon jahrelang vorher die Situation in Berlin, dass gar nicht alle Frauen, die akut einen Frauenhausplatz brauchten, unmittelbar einen gekriegt haben, weil es zu wenig Plätze gab. Durch das Hotel konnten viele Frauen in der Not Schutz finden.

Ansonsten haben Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, unsere telefonische und aufsuchende Beratung weiter so funktioniert wie zuvor. Es war auch ein sehr guter Austausch im Hilfesystem und es gab immer wieder Austausch mit dem Berliner Senat zu der Situation von Frauen, um immer auch zu gucken, wie man schnell helfen kann und was gerade wieder gebraucht wird.

Problematisch ist vor allem die schleppende Zusammenarbeit mit den Behörden, wie dem Jugendamt, also dass viele Frauen in Notsituationen, nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchen, auch wenn sich verschiedenste SozialarbeiterInnen dahinterklemmen. Die Corona-Pandemie hat in den Jugendämtern die Situation sicher nochmal verschärft, ähnlich wie auch im gesamten Gesundheitssystem.“

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Trentzsch.

Hier geht es zur “BIG e.V.”: https://www.big-berlin.info/

bighotline

Stand: Dezember 2021