Die Beduinenfrauen im Negev – Bericht von einer Reise in den Negev im Oktober 2014

Es ist Oktober und ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit im Nahen Osten. Eigentlich eine gute Zeit für eine Reise in diese wunderschöne Gegend, in der es die zwei Staaten Israel und Palästina geben sollte – aber so einfach ist die Lage vor Ort nicht. Im Gegenteil, es wird immer komplizierter. Denn alles hängt zusammen. Alles ist ineinander verwoben, alles ist verwirrend, noch verwirrender als sonst. Im August 2014 ist der letzte Gazakrieg – zumindest offiziell - zuende gegangen. Ein Krieg, in dem mehr als tausend PalästinenserInnen getötet und viele tausend zum Teil schwer verletzt wurden. Ein Krieg, der auch mehr als 50 israelische Soldaten und einige israelische Zivilisten das Leben gekostet hat. Ein unverhältnismäßiger Krieg, der viel mit Ängsten, aber auch mit Aggressionen von außen zu tun hat. Ein Krieg, der die Gegensätze nachhaltig zementiert hat: Die Worte des Hasses aufeinander, sie sind nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand zu hören, sondern werden offen ausgesprochen. Aber: Wer hasst wen? Das ist schon komplizierter, die Allianzen sehen manchmal von außen klarer aus, als sie es eigentlich sind.

Die Beduinenfrauen in der Negevwüste haben die vergangenen Monate als eine sehr ambivalente Zeit erlebt. Zum einen waren sie so wie viele andere Israelis dem Raketenbeschuss aus Gaza ausgesetzt. Zum anderen mussten sie aber in Lakia und den vielen illegalisierten beduinischen Siedlungen in der Negevwüste mit der verschäften Situation leben, dass es kaum Bunker, Sicherheitsunterstände oder Warnsignale gab. Wer in einem illegalisierten beduinischen Dorf lebt, hat keinen Zugang zum öffentlichen Versorgungssystem und dazu gehören in Israel eben auch die Schutzvorrichtungen gegen Raketenbeschuß. Ein Problem aus der zweiten Perspektive: Viele Beduinen bezeichnen sich selbst als Palästinenser, die in Israel leben. In Gaza, nicht weit entfernt von Lakia, leben ihre Verwandten, eingeschlossen und oftmals dem israelischen Raketenbeschuss hilflos ausgesetzt. Ein verwirrendes Drama im Kopf – möglicherweise von denen beschossen zu werden, mit denen man eine tiefe Solidarität spürt.

In einer solch hochexplosiven Situation leben die Beduinenfrauen mit ihren Familien in Lakia. Seit 1996 existiert die Organisation „The Association for the improvement of women status – Lakia”. Seit dem Jahr 2002 unterstützt TERRE DES FEMMES die Arbeit in Lakia. Ziel der in dieser Initiative vernetzten Frauen ist es, die traditionell sehr patriarchal geprägte beduinische Gesellschaft zu verändern und eigenständige Arbeits- und Verantwortungsbereiche für beduinische Frauen zu schaffen. Die Frauen in Lakia gehen hier seit vielen Jahren mühsame, anstrengende, aber immer wieder auch erfolgreiche Wege. In ihrer Arbeit verbinden sich emanzipatorische Gesichtspunkte, die auf ein neues Verhältnis der Geschlechter hinarbeiten, mit politischen Forderungen, die sich auf die Situation von Beduinen im Staat Israel generell beziehen. Beduinische Frauen hatten in der „vorstaatlichen“ Zeit (d.h. zu der Zeit, als der Staat Israel noch nicht existierte) einen größeren Freiraum, da sie sich in der Negevwüste in nomadischen Zusammenhängen freier bewegen konnten als nach der Ansiedlung der Beduinen in die ihnen zugewiesenen Häuser. Die Frauen der Lakia Women`s Association rekurrieren auf diese Hintergründe und leiten aus ihnen Forderungen ab, die neue Beteiligungsmöglichkeiten für Frauen schaffen sollen.

Die Lakia Women`s Association – wie sie im folgenden genannt werden soll – hat im vergangenen Jahr auch unter den erschwerten Umständen des Krieges ihre Ziele beibehalten:

(1) Eingliederung von Beduinenfrauen in einen Arbeitsprozess in der Nähereiwerkstatt und im Verkauf der dort gefertigten Produkte,
(2) Empowerment von Frauen und Mädchen,
(3) Unterstützung der Beduinenfrauen und – kinder in den illegalisierten Siedlungen,
(4) Bildung und politische Arbeit für die Rechte der Beduinen insgesamt.

Hier ein stichwortartiger Überblick zur aktuellen Situation:

  • Derzeit sind 50 Frauen in der Nähereiwerkstatt beschäftigt. Einige Frauen kommen nicht mehr, haben dafür aber eigene Betriebe eröffnet. Die Lakia Women`s Association sieht diese Entwicklung als sehr positiv an.
  • Am Problematischsten ist derzeit vor allem die Situation der Frauen in den illegalisierten Siedlungen. Hier müsste viel mehr Unterstützung geleistet werden. Derzeit ist dies aus finanziellen Gründen nicht möglich.
  • Durch den Krieg im Sommer 2014 gab es große Einbußen im Verkauf der handgefertigten Produkte. Es kamen kaum noch Touristengruppen, die üblicherweise vor allem in den Sommermonaten die Lakia Women`s Association besuchen, um das Leben der Beduinen im Negev kennenzulernen. Auch jüdische Gruppen aus dem Staat Israel sagten ihre Besuche ab, da die Sicherheitslage im Negev Besuche sehr gefährlich erscheinen ließ. Mittlerweile ist die Zahl der BesucherInnen wieder ein wenig angestiegen, aber die Auswirkungen des Krieges sind noch immer deutlich zu spüren.
  • Die fahrende Bibliothek, die seit vielen Jahren Kinder in den illegalisierten Siedlungen mit Büchern versorgt kann durch eine regelmäßige Großspende weiterhin betrieben werden.
  • Die Lebenshaltungskosten in Israel sind gestiegen, das bedeutet auch, dass die Materialien für die zu erstellenden Nähereiprodukte teurer geworden sind. Es ist ein großes Anliegen der Frauen, diese auch auf dem internationalen Markt anbieten zu können. Ein Problem besteht aber darin, dass die Produkte „von außen“ im Vergleich zu vielen palästinensischen Stickereien aus dem Westjordanland vergleichsweise teuer erscheinen. Dies liegt daran, dass (1) das Material dort insgesamt billiger ist, (2) dass dort selten Sozialversicherungsbeiträge für die Frauen gezahlt werden und dass (3) die Frauen dort oft zuhause arbeiten. Bei der Lakia Women`s Association hingegen findet die Arbeit in der Stickereiwerkstatt statt, um den Frauen auch außerhalb des eigenen Hauses einen Raum zu geben. Der Unterhalt dieser Werkstatt muss ebenfalls finanziert werden, insofern sind die Kosten höher als im Westjordanland.
  • Gewalt in der Gesellschaft, die sich gegen Mädchen und Frauen richtet ist und bleibt weiterhin ein Problem. Die Kriegssituation trägt zusätzlich dazu bei, die äußeren Gewaltprozesse bilden sich in den jeweiligen Gesellschaften innerlich ab und werden selten als Problem artikuliert. Dieses Phänomen betrifft nicht nur die Beduinen, sondern den Nahen Osten insgesamt. Die Frauen der Lakia Women`s Association versuchen diesem Problem auch weiterhin zu begegnen, indem Frauen und Mädchen und zunehmend auch Jungen geschult werden, neue Blickwinkel auf das Verhältnis zwischen Männern und Frauen einzunehmen. Die Frauen der Lakia Women`s Association gehören der muslimischen Religion an, betonen aber, dass das Phänomen Gewalt sich aus ihrer Sicht eindeutig an der Tradition und nicht an der Religion festmacht.
  • Ein zunehmendes Gesprächsthema wird für die Frauen auch immer mehr die Frage, welche Offenheit Menschen in der beduinischen Gesellschaft insgesamt zugestanden wird. Traditionellerweise finden zum Beispiel Eheschließungen nur innerhalb eines Stammes statt. Eine der Frauen, die durch die Arbeit der Lakia Women`s Association geprägt wurde, hat innerhalb des letzten Jahres in der eigenen Familie durchgesetzt, dass auch eine Heirat mit einem Mann aus einem anderen Stamm möglich ist. Diese Entscheidung hat sehr viel Widerspruch provoziert, letzten Endes wurde sie dann aber akzeptiert und es wurden neue Diskussionsprozesse angestoßen.

Resumee:
Die Frauen in Lakia haben ein großes und wichtiges Potential, um in der beduinischen Gesellschaft Veränderungen herbei zu führen. Sie brauchen Unterstützung, indem auf ihre Situation auch international aufmerksam gemacht wird. Benötigt werden außerdem in zunehmendem Maße Spenden, um die bisherigen Projekte weiter betreiben zu können. Wie sich die politische Lage im Nahen Osten entwickeln wird, ist sehr ungewiss. Vermutlich werden die Auswirkungen des letzten Gazakrieges auch in der Zukunft noch deutlich zu spüren sein. Ein Grund mehr, unsere solidarische Unterstützung weiterhin zu verstärken, weitere Spenden einzuwerben und die Öffentlichkeitsarbeit für die Lakia Women`s Association fortzusetzen.

Unsere Projektkoordinatorin Ines Fischer (links) auf Besuch bei den Lakia-Frauen. Foto © Ines FischerUnsere Projektkoordinatorin Ines Fischer (links) auf Besuch bei den Lakia-Frauen.
Foto: © Ines Fischer

Januar 2015, Ines Fischer