Neuanschaffungen 2014

 

Louise Erdrich
Das Haus des Windes
Roman
Aus dem Englischen von Gesine SchröderCover Haus des Windes

Erdrich siedelt das Geschehen ihres Romans in einem fiktiven Reservat der Indigenen in North Dakota, im Jahr 1988 an. Zwei indigene Frauen werden brutal überfallen. Eine von ihnen bleibt vermisst. Die andere Frau, Geraldine, überlebt – vergewaltigt - knapp.

Geraldine betreut das Stammesbüro und verfügt als Einzige über den Kode des Safes, in dem sie die verästelten Stammesregister und Zeugnisse geheimer Familiendramen hütet. Sie ist die Mutter des 13-jährigen Joe. Dieser berichtet, nun Erwachsener und Jurist, über den Gewaltakt, dessen Folgen seine Familie fast zerrüttet hätten und ihn, den Jungen, zu folgenschwerem Handeln veranlassen sollte.

Tatablauf und Tatort bleiben im Dunkeln, da Geraldine kaum mehr ansprechbar ist und sich traumatisiert in ihrem Schlafzimmer einigelt, bald nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Joes Vater, ein Stammesrichter, kann nichts unternehmen.
Der Junge entscheidet, der Sache selbst nachzugehen und begibt sich gemeinsam mit seinen drei engsten Freunden auf abenteuerliche Fährtensuche.

Als die Mutter sich überwindet und die sie verstörenden Ereignisse nach und nach wiedergibt, wird klar, dass der Täter rechtlich nicht belangt werden kann. Am Tatort, ein ehemaliges indianisches Kulthaus, treffen sich Stammesland, staatliches Land und Privateigentum. 1988 verfügten noch alle Reservate in den USA über ein eigenes Rechtssystem, das aber nicht auf amerikanische Staatsbürger angewandt werden konnte. Somit auch nicht für dort von ihnen begangene Verbrechen belangt werden konnten.

Und genau hier macht die Autorin mit ihrem Roman auf ein großes, skandalöses Problem aufmerksam: jede dritte im Reservat lebende, indigene Frau wird in ihrem Leben Opfer von Vergewaltigung. Dabei sind 86 Prozent der Täter Nichtindigene. Die vorherrschende Gewalt gegen indigene Frauen bezeichnete Präsident Obama als Anschlag auf das „nationale Gewissen“. Erst im Februar 2013 unterzeichnete er ein Gesetz das, drei Indianernationen gestattet, rechtlich gegen Nichtindigene vorzugehen, weitere Indianernationen können sich anschließen.

Aus der Perspektive des aufgeweckten, genau beobachtenden 13-jährigen erzählt, erhält das Buch Frische, Humor und Authentizität.

Aufbau Verlag, Berlin 2014, 384 Seiten, 19,99 €

 

Lola Shoneyin
Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi
Roman
Aus dem Englischen von Susann UrbanShoneyin BabaSegi

Bolanle ist 21 Jahre alt, hat eine akademische Ausbildung und heiratet im nigerianischen Abadan den Warnungen ihrer entrüsteten Mutter zum Trotz den Patriarchen Baba Segi. Neben dessen kaum gebildeten Frauen Iya Segi, Iya Tope und Iya Femi, die dieser nach ihren Erstgeborenen benannt hat, wird Bolanle die vierte Frau. Sie hat sich den älteren Mann bewusst ausgesucht. Anders als junge Männer würde ihn ihr Schweigen nicht verstören. Sein Heim würde ihr die Möglichkeit bieten, in der „Anonymität zu gesunden“, denn sie fühlt sich „beschmutzt“: als junge Frau wurde sie entführt und vergewaltigt. Erzählt hat sie das noch niemandem.

Der Empfang in ihrer neuen Familie ist alles andere als freundlich. Ihr Leben ist geprägt durch das Konkurrenzverhalten und die Hinterhältigkeit der Frauen, die ein gemeinsames Geheimnis hüten.

Als Bolanle auch nach zwei Jahren kinderlos bleibt, wird sie von Baba Sagi, der sich blamiert fühlt, zur ärztlichen Untersuchung gebracht, um ihre (vermeintliche) Unfruchtbarkeit zu heilen. Das Geheimnis der anderen Frauen ist bedroht und lässt sie zu bizarren Mitteln greifen. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf...

Das Zusammenleben in der polygamen Gemeinschaft scheint sich festgeschriebenen Regeln zu fügen, denen selbst das Gerangel um die Gunst des Patriarchen folgt.

Die Autorin lässt jedem Familienmitglied gleichermaßen Raum, lässt jedes zu Wort kommen, indem sie wechselnd eine der vier Frauen und Baba Segi erzählen lässt. Mal schlicht im Tonfall, manchmal sogar lapidar, dann wieder verschmitzt, an anderer Stelle alarmiert, aber stets voller Witz und Wärme: Lola Shoneyin schafft es, in ihrem Debütroman die Tragik hinter dieser oft komödiantisch agierenden Großfamilie aufzudecken.

Edition Büchergilde, Weltlese 13. Frankfurt am Main, 2014, 284 Seiten, 22,95 €

 

Güner Yasemin Balci
Aliyahs Flucht.
Oder die gefährliche Reise in ein neues Leben

balciAuch in ihrem dritten Roman thematisiert Balci den Drang junger Migrantinnen nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Aliyah ist Kurdin, ihr Freund Dimi Grieche. Treffen können sie sich nur heimlich. Nachdem ihre Mutter von der Beziehung erfährt, soll Aliyah die Beziehung zu Dimi beenden und ihre Jungfräulichkeit überprüft werden, denn eine ‚benutzte’ Frau gilt in ihrem Umkreis seit Generationen als ehrlos. Doch Aliyah wehrt sich. Sowohl gegen den Besuch beim Frauenarzt als auch gegen eine aufgezwungene Ehe.
Sie trifft eine gleichermaßen mutige wie auch unendlich schwere Entscheidung: Sie verlässt ihre Familie, flieht und kommt in einem Frauenhaus viele Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt unter, immer in der Angst, ihre Familie könnte sie aufspüren. Aus Sicherheitsgründen darf sie mit fast niemandem Kontakt haben, monatelang auch mit Dimi nicht. Sie werden auf der Flucht bleiben müssen, immer wieder Orte verlassen, die ihnen für eine Zeit lang Schutz gegeben haben, um an einem neuen Ort wieder von vorne zu beginnen Aliyah und Dimi erhalten in dieser Zeit unschätzbare Unterstützung von Frauen wie Balci, unterschiedlichen Organisationen, aber auch von Menschen, die einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und erstaunliche Verantwortung für eine ihnen unbekannte Frau übernommen haben.

Balci beschreibt Aliyahs Ängste genauso eindrücklich wie ihre Entschlossenheit und den Willen eine freie Frau zu werden, gemeinsam mit dem Menschen, den sie liebt. Sie greift Geschichten aus Aliyahs Umkreis auf, die die unterschiedlichsten Konflikte zwischen Traditionen und westlicher Kultur thematisieren.

S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2014. 253 Seiten, 14,99 €

 

Claudia Zeising
Positiv leben - The joy of being alive - Maisha yenye nguvuzeisig

2009 hat Melanie Mreme Kyando in Tansania die Selbsthilferuppe Lusubilo für von AIDS/HIV+ Betroffene gegründet. Sie hatte sich selbst bei ihrem Mann infiziert. Die Gruppe klärt seither bei öffentlichen Veranstaltungen und Kirchentreffen über diese „verrufene“ Krankheit auf. 2011, Lusubilo zählte schon über 45 Mitglieder, fiel der Beschluss, ihre Geschichten gemeinsam aufzuschreiben, um anderen Menschen zu zeigen, dass man trotz HIV+ ein beinahe normales Leben führen kann.

Nicholas Calvin hat sich mit den Betroffenen zusammengesetzt und die Interviews geführt, in denen sie aus ihrem Leben erzählen. Ein Leben gegen die Last der Stigmatisierung, oft genug von Verzweiflung geprägt. Ein Leben, in dem die Solidarität und Akzeptanz in der Gesellschaft eine große Rolle beikommt.
Neben den Lusubilo-Mitgliedern kommen u.a. eine Ärztin und die Leiterin der Abteilung für Waisenkinder und Witwen der Herrnhuter Brüdergemeinde in Tansania zu Wort. Eine Analyse zur derzeitigen Situation von HIV/AIDS bietet wichtige Hintergundinfos.

Die Einsichten, die wir durch die Offenheit der Betroffenen erhält, beschäftigen uns nachhaltig. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation und die frühen Erfahrungen mit dem Tod gehen uns nahe.
Aber in Claudia Zeisings Buch geht es nicht darum, Mitleid zu erwecken, sondern viel eher darum, Bewunderung, Achtung und Respekt für die Menschen zu empfinden, die trotz dieser Krankheit weiterhin oder wieder im Leben nach vorne blicken und sich nicht selbst aufgegeben haben.

Die lebendigen Fotos des Bandes stammen von der Fotografin Regina Mariola Sagan. Sie hat die Lusubilo-Gruppe zwei Monate lang begleitet und ihr Vertrauen gewonnen. Ihren Fotos aus dem Alltag der Menschen ist das anzusehen.

5 € je Buch kommen direkt der Lusubilo Selbsthilfegruppe zu Gute.
Positiv leben ist nicht im Handel erhältlich und kann entweder über den Sara Förderverein in Lübeck oder direkt über Claudia Zeising bestellt werden.

Claudia Zeising Copyright, Rosdorf, 2014. 253 Seiten, 19,90 €

 

Julia Korbik
Stand up
Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene

Korbik Fem klein Den Wermutstropfen vorneweg: Dass schon im Titel eines Buches, das offensichtlich Feminismus aufbereitet, auf geschlechtergerechte Sprache verzichtet wird, befremdet.
Schlägt man dann aber Julia Korbiks Buch auf, so möchte man es so bald nicht mehr aus der Hand legen: Mit viel Sinn für gestalterische Details werden hier übersichtlich gehaltene Artikel zu Aspekten, die den Feminismus beschäftigen, um Infografiken, Interviews und Zitate ergänzt. Zitate, die wohl die eine oder andere Pinnwand schmücken werden.
Gewitzte (Kleinst-)Analysen bereiten Ach-Ja-Erlebnisse. So unterscheidet Korbik unter der Rubrik „Sexismus-Typologie“ einen „Offensiven Sexismus“, „Sexismus mit Kavalierscharakter“, „Sexismus-gibt-es-nicht-Sexismus“ und „versteckter Sexismus“. Diese illustriert sie jeweils durch einen „typischen“ Satz („Eine Frau wie Sie sollte nicht arbeiten müssen, sondern auf Rosen gebettet werden.«) und verleiht ihnen nicht ohne Ironie Punkte auf einer Sexismus-Skala.

Und ja, es gab und gibt sie noch die FeministInnen. Davon zeugen die zahlreich eingestreuten Kurzbiografien.

In acht Kapiteln führt das Handbuch die – junge - Generation durch die Geschichte und Gegenwart des Feminismus. Themen wie Körperbilder, Sexismus, Gewalt gegen Frauen, Frauen in der Politik und in der Pop-Kultur werden erörtert und zeigen, dass die Beschäftigung mit Gleichberechtigung noch nicht obsolet ist.
Querverweise, weiterführende Links, Musik- und Filmtipps runden dieses ideenreiche und vielschichtige Handbuch ab.

Ein buntes Aufklärungsbuch, welches das „alte“ Thema „Feminsmus“ mit frischen Augen betrachtet.

Verlag Rogner & Bernhard, Berlin, 2014, 416 Seiten, 22,95 €

 

Annick Cojean
Niemand hört mein Schreien
Gefangen im Palast GaddafisCover Cojean klein

Eine Woche nach dem Sturz Gaddafis reist Annik Cojean, Sonderkorrespondentin für Le Monde, nach Libyen, um dort über die Rolle der Frauen während der Aufstände zu recherchieren. Dabei lernt sie die 22-jährige Soraya kennen, die den Mut aufbringt, ihr ihre unerhörte Lebensgeschichte anzuvertrauen und der Journalistin ein weiteres von Gaddafi begangenes Verbrechen zu offenbaren.
Als Fünfzehnjährige wurde Soraya auf Gaddafis Geheiß entführt und über Jahre hinweg in dessen Residenz gefangen gehalten und sexuell ausgebeutet. Sie war nicht die einzige „Sexsklavin“ Gaddafis. Hunderte Mädchen und Frauen hatten ihm zu Diensten zu sein. Hunderte Mädchen und Frauen, denen jede achtbare Zukunft in der libyschen Gesellschaft verbaut wurde. Denn diese unsäglichen Verbrechen werden dort den Missbrauchten selbst angelastet. Als „Entehrte“ stigmatisiert, bringen die vergewaltigten Mädchen und Frauen Schande über ihre Familie. Oft müssen sie sogar um ihr Leben fürchten. So schildert Soraya: „Ein verlorenes Mädchen, seufzen meine Eltern. Ein Mädchen, das man töten muss, denken meine Brüder, deren Ehre auf dem Spiel steht. (…) Mich umzubringen würde aus ihnen geachtete Männer machen.“
Soraya möchte das ihr Widerfahrene publik machen. Sie will sich nicht damit abfinden, dass solche Gewalttaten von der libyschen Gesellschaft totgeschwiegen werden. Soraya will trotzdem in Libyen leben.

Die Erzählung ihrer Lebensgeschichte im ersten Teil des Buches, soll ihr Gehör verschaffen.
Der zweite Teil widmet sich den Hintergründen. So werden weitere erschreckende Fakten und erschütternde Schilderungen von ZeugInnen zusammengetragen, das Umfeld und die Hintermänner Gaddafis genauer durchleuchtet und die gesellschaftlichen Zusammenhänge geklärt.

Annick Cojean erhielt im Jahr 2012 für ihr Buch den Albert Londres Preis, die höchste journalistische Auszeichnung Frankreichs.

Aufbau Verlag Berlin, 2014, 296 Seiten, 19,99 €

 

Sheila Jeffreys
Die industrialisierte Vagina.
Die politische Ökonomie des globalen SexhandelsCover: Sheila Jeffreys Die industrialisierte Vagina

Dass heute zunehmend von Sexindustrie statt von Prostitution gesprochen wird, ist für die Autorin Beweis für eine Entwicklung, die dank der „Bündelung verschiedener Kräfte“ im späten 20. Jahrhundert eingesetzt habe. Vor allem eine neue, liberale Wirtschafts- und Marktideologie führte, aus Sicht der Politik- und Wirtschaftswissenschaftlerin, zu einer (Neu-) Definition von Prostitution als „seriöse“ Arbeit und schaffte damit die Grundlage für nationale und internationale Sexindustrien, mit global boomenden Profiten.

In ihrem Buch analysiert Jeffreys diese Entwicklung. Dabei wendet die langjährige Aktivistin ein radikalfeministisches Rahmenkonzept an, in dem „Prostitution als schädliche kulturelle Praktik verstanden wird, die eine Form von Gewalt gegen Frauen ist und deren Grundlage die Unterdrückung der Frau ist.“

Folgerichtig bezieht sie Kinder- und Zwangsehe, Pornografie, Militärprostitution, Sextourismus und Frauenhandel in ihre Untersuchung ein und widmet ihnen eingehende Kapitel mit aufschlussreichen Einsichten in die komplexen Zusammenhänge, die diesen Phänomenen zugrunde liegen und sie bedingen.

So schlägt sie im Kapitel zum Thema Militärprostitution den Bogen von den zwangsprostituierten „Trostfrauen“, die der japanischen Armee zu Diensten sein mussten, über die Bordelle im Kosovo, in denen sich Soldaten der Friedenstruppen mit gehandelten Frauen vergnügten, bis hin zu den Vergewaltigungslagern in Bosnien.

Sheila Jeffreys ist Professorin im australischen Melbourne und arbeitet speziell zu den Themen Sexindustrie, Frauenhandel, Schönheitspraktiken, Pornografie, feministische internationale Politiken, sexuelle Gewalt in Kriegen, HIV, AIDS, lesbische Politiken u.a.

Marta Press Verlag Jana Reich, Hamburg, 2014, 278 Seiten, 29, 90 €

 

Michael Jürgs
Sklavenmarkt Europa
Das Milliardengeschäft mit der Ware MenschCover Jürgs Sklavenmarkt

Der heutige Menschenhandel ist nur eine neue Form von Sklavenhandel. Der wesentliche Unterschied liegt nur darin, dass heutzutage der Handel mit Menschen illegal ist und sich in der Unterwelt abspielt, während der Handel mit Sklaven bis zum 19. Jahrhundert international in der Regel moralisch legitimiert war und wirtschaftlich eine große Bedeutung für die Gesellschaft darstellte. Den anschaulichen Beweis liefert der Journalist Michael Jürgs mit seinem neuen Buch.

Von Verschleppung, Verkauf, Versteigerung, Ausbeutung und Entrechtung sind europaweit ca. 880 000 Menschen betroffen. Allein Zwangsprostitution macht dabei 60% des Marktes aus. Frauen und Mädchen werden zum großen Teil aus osteuropäischen Ländern rekrutiert und für 3000 - 4000 € an ZuhälterInnen versteigert. „Die Frauen sind rechtslos, schutzlos, hoffnungslos ihren Besitzern ausgeliefert. Ihre Ausbeutung ist ein sicheres Investment.“ Jürgs zeigt auf, welchen Wert die „Ware Mensch“ für die organisierte Kriminalität hat und welche Milliardengeschäfte dahinter stecken. Der Menschenhandel erbringt nach dem Drogenhandel den größten Umsatz.

Jürgs verschafft schockierende Einblicke und beschreibt detailliert in welcher Komplexität der Menschenhandel vor sich geht. Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Organisierte Bettelei oder der Handel mit Organen sind nur ein paar der Themenfelder, die er absteckt. Dabei bedient er sich oftmals einer drastischen und sarkastischen Schreibweise.
Für seine Recherchearbeit führte er Interviews mit der Bundespolizei, Scotland Yard, nahm an Razzien teil und führte Gespräche mit Nichtregierungsorganisationen, VertreterInnen der UNO und Frontex. Leider kommen in seinen Interviews Betroffene nicht zu Wort. Dabei wäre es für seine umfangreiche Darstellung gerade wichtig, diese Perspektive miteinzubringen. Trotzdem ist es Jürgs gelungen durch seine akribische Recherche und die vielseitigen Beispiele, eine faktenreiche Einsicht in die Abgründe zu gewähren, die sich durch den Menschenhandel auftun.

C. Bertelsmann Verlag, München, 2014, 352 Seiten, 19,99€

 

Elif Shafak
Ehre
Romanshafak

Sechs Mädchen hat die kurdische Familie bereits als die Zwillingsschwestern Pembe und Jamila 1945 zur Welt kommen. Die Trauer darüber, auch dieses Mal keinen Sohn entbunden zu haben, lässt die Mutter für Tage verstummen. Die Schwestern werden ihre Kindheit in dem kargen, abgelegenen Dorf im Südosten der Türkei verbringen. Pembe wird einen Mann aus Istanbul heiraten und mit ihm nach London auswandern. Jamila wird nie heiraten können, denn sie wurde als Jugendliche entführt und hat womöglich ihre Keuschheit verloren, das unabdingbare Gut einer ehrbaren Frau auf dem Heiratsmarkt in ihrer Kultur.

Aber auch Pembe wird in London das ersehnte Glück nicht finden: Ihr Mann verfällt der Spielsucht. Für eine Tänzerin verlässt er seine Frau und die drei Kinder. Iskender, der Älteste, gerade 16 Jahre alt, wird zum Oberhaupt der Familie. Als die Mutter sich in den weltoffenen Koch Elias verliebt, sieht sich der Sohn gezwungen zu handeln.

Shafak erzählt die Familientragödie aus den unterschiedlichsten Perspektiven, baut Spannung durch Zeitspünge auf. Der Roman beginnt in der Gegenwart - Esma, Pembes Tochter schickt sich an, ihren Bruder aus dem Gefängnis abzuholen, springt im nächsten Kapitel zu der Geburt der Zwillinge in Anatolien, schlägt dann die Brücke nach London, wo wir Pembes Mann in eine Spielhölle begleiten. Iskenders Aufzeichnungen aus dem Gefängnis geben Einblick in die Gedankenwelt eines Jungen, der seine Mutter erstochen hat.

In ihrem Sittengemälde deckt die Autorin die Dynamik (vermeintlicher) gesellschaftlicher Zwänge auf, ohne die Beteiligten bloß zu stellen. Eine berührend lebendige Familiensaga. Bitte lesen.

Kein & Aber, Zürich - Berlin, 2014, 525 Seiten, 24,90

 

 Aisha K. Gill, Carolyn Strange, Karl Roberts
‚Honour’ Killing & Violence
Theory, Policy & Practicehonour killing

Das Buch bietet eine interdisziplinäre Perspektive auf das oft kontrovers diskutierten Thema. So behandeln die einzelnen Kapitel „Ehren“-Morde etwa aus kriminologischer, geschichtlicher, juristischer oder psychologischer Sicht. Die AutorInnen gehen auf die Situation in Großbritannien, Kanada, Indien und in den skandinavischen Ländern ein, vergleichen die unterschiedlichen Lösungsansätze in Deutschland und in Großbritannien.

Analysiert werden die Zusammenhänge zwischen geschlechtsbedingter Diskriminierung und Gewalt und dem kulturellem Verständnis von „Ehre“, die zur Ermordung von Frauen führen (können). „Ehren“-Morde werden nicht als isolierte Vorfälle betrachtet, sondern als ein letzter Gewaltakt am Ende einer Reihe geschlechtsbedingter Diskriminierung und Gewalt.

Das Buch richtet sich sowohl an Universitätslehrende und Studierende, an Angestellte der Polizei, RechtsanwältInnen, SozialarbeiterInnen als auch an AktivistInnen, die sich gegen geschlechterbedingte Gewalt einsetzen.

Palgrave Mcmillan, New York, 2014, 244 Seiten, in englischer Sprache, 27, 50 €

Johannes Heibel (Hrsg.)
Der Pfarrer und die Detektive
Einblicke in innerkirchliche Abläufe bei sexuellem Missbrauch durch KlerikerCover Heibel: Der Pfarrer und die Detektive

In dem Tatsachenbericht verfolgt Johannes Heibel drei Missbrauchfälle der vergangen zwanzig Jahre. Es werden Berichte und Briefe von Opfern, Eltern der Betroffenen und Zeugen eingebracht sowie die Berichterstattung der Presse. Darüber hinaus werden geheime Unterlagen verwendet, die Vertuschungs- und Einschüchterungsversuche der Kirche enthüllen.

Insbesondere durch die Darstellung der verschiedenen Opferperspektiven gibt das Buch tiefe und ergreifende Einblicke. Die Ohnmacht der Betroffenen, die Ignoranz der Kirche und ihre schützende Haltung gegenüber den Tätern, bringt die Enttäuschung des Autors und seine persönliche Konsequenz nahe: Er gibt am Ende des Buches seinen Kirchenaustritt bekannt.

Heibel bleibt allerdings bei der Kritik der Kirche nicht stehen. Sie richtet sich auch auf den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch. „Diese strukturelle Gewalt ist es, die wir unbedingt verändern müssen, da ansonsten jegliche Präventionsbemühungen scheitern werden. Das Klima muss sich verändern. Betroffene müssen spüren und erleben, dass dem Opferschutz Priorität eingeräumt wird und nicht dem Täterschutz. Nur so werden sie ermutigt, ihr Schweigen zu brechen.“ Wie der Opferschutz genauer aussehen sollte, erklärt Heibel in den abschließenden Seiten des Buches. So stellt er die Forderung nach einem unabhängigen Amt für Opferschutz, Aufklärung und Prävention, das ähnlich wie das Jugendamt funktionieren soll. Von der Kirche erwartet er u.a. eine klare Regelung im Umgang mit Verdachtsfällen, mehr Transparenz und Konsequenz, Präventionsarbeit sowie eine öffentliche Entschuldigung und Wiedergutmachung.

Johannes Heibel ist Vorsitzender der „Initiative gegen Gewalt und Missbrauch an Kindern und Jugendlichen e.V.“, in dessen Rahmen er dieses Buch herausgegeben hat.

Horlemann Verlag, Berlin 2014, 328 Seiten, 16,99 €

 

Matthias Franz (Hrsg.)
Die Beschneidung von Jungen
Ein trauriges Vermächtnis

Im Mai 2012 fällt das Landgericht Köln ein Urteil, das einen Sturm auslöst: Es entscheidet, dass die religiöse Beschneidung von Jungen eine Körperverletzung und somit strafbar ist.
Nun, zwei Jahre später, heben die Befürworter des Urteils die oft emotional geführte Diskussion mit dem Sammelband auf eine sachliche Ebene.

ExpertInnen jeder Profession analysieren in Fachaufsätzen die Tradition der Jungenbeschneidung und stellen ihr die Auffassungen von Körperlichkeit und Selbstbestimmung in einer säkularen Demokratie entgegen.
So klären JuristInnen auf, dass dort, wo BefürworterInnen der Beschneidung einen Eingriff in das Grundrecht der Religionsfreiheit sehen, vergessen wird, dass auch das Kind ein Recht auf eben diese hat. Differenziert wird dargestellt, dass darüber hinaus auch das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit sowie Selbstbestimmung und der Gleichheitsgrundsatz missachtet werden.
Nach einem Überblick über Geburts- und Initiationsriten wird auch der kulturgeschichtliche und medizinhistorische Hintergrund beleuchtet. Beiträge aus medizinischer Perspektive räumen mit Mythen auf, die sich um angebliche Vorteile der Beschneidung, insbesondere im westlichen Raum, ranken. Eingehend wird auch auf die psychologischen und psychoanalytischen Folgen der Beschneidung in Form von Traumata eingegangen.
Schließlich kommen auch ReligionswissenschaftlerInnen zu Wort. So wird etwa eine Analyse des Diskurses innerhalb der jüdischen Gemeinde geliefert.
Irmingard Schewe-Gerigk, die als Vorstandsfrau von TERRE DES FEMMES die Haltung des Vereins bezüglich der Jungenbeschneidung maßgeblich prägte, bedauert in ihrem Beitrag, dass die Verabschiedung eines kinderfeindlichen Gesetzesentwurfs im Schnellverfahren nur einer unzulänglichen politischen Diskussion Raum lassen konnte. Für Schewe-Gerigk birgt das Festhalten an dieser Praxis das Risiko eines zivilisatorischen Rückfalls, der die Rechte aller Kinder gefährdet, da eine religiöse Überzeugung als Rechtfertigung für eine Körperverletzung gebilligt wird.
Erlebnisberichte von Betroffenen komplettieren das Bild.

Das Buch informiert umfassend und auf einem sachlich hohen Niveau. Dies qualifiziert es als Fachliteratur, für die zwar kein Vorwissen nötig ist, jedoch die Bereitschaft, sich auf die komplexen wissenschaftlichen und rechtlichen Grundlagen der sich sonst eher emotional erschließenden Thematik einzulassen.

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014. 448 Seiten, 29,99 €

 

Arzu Toker
Kein Schritt zurückToker

Der Band enthält das überarbeitete und erweiterte Radiofeature “Die Balkonmädchen oder Habe die Ehre, Madame!” und den Prosatext “Verschenkte Freiheit”.

In “Verschenkte Freiheit” lässt Arzu Toker eine Mutter Briefe an ihre vermisste Tochter schreiben. In ihnen gibt sie ihrem Leid, ihrer Wut und ihrer Ohnmacht Ausdruck, denn sie hat ihre Tochter an eine konservative islamische Sekte verloren.

“Die Balkonmädchen” sind den Klageliedern der Frauen, die schon in vorislamischen Kulturen nach schmerzvollen Ereignissen ihre Gesänge anstimmten, nach empfunden. Aber die Klagen haben sich bei Toker zu Anklagen gewandelt. Anklagen gegen eine von patriarchalischen Wertevorstellungen beherrschten Gesellschaft, die mit “Ehren”-Morden an Frauen ihr System auch in der Fremde aufrecht erhalten will.

Wir lassen die Anklagen für sich sprechen:

Meine Kindheit verbrachte ich im Osten der Türkei./ Die Ehre konnte dort das Leben kosten./ Meine Jugend lebte ich in Istanbul,/ die Ehre war kein Thema./ Seit 1974 lebe ich mitten in Europa,/ klammheimlich kam die Ehre nach./ Sen benim namusumsun./ Du bist meine Ehre. ...

Kultur ist kein Naturgesetz./ Ich muss sie nicht behalten./ Ich will die Kultur nicht haben,/ die das Feuer in Krefeld entfachte,/ das Feuer eines Mannes, der/ seine Frau, seine Töchter verbrannte.

Ich will die Kultur nicht, welche/die Kugel des Bruders in Hannover steuerte,/ der um der Ehre willen/

seine Schwester erschoss,/ weil sie sich mit einem Deutschen verlobte. ...

In Europa, in Deutschland/ habe ich die Freiheit gerochen/ wie frisch gebackenes Brot,/ die Freiheit genossen wie die Liebe!/ Ich bin und bleibe/ eine Frau./ Ich gebe nichts ab,/ ich gehe keinen Schritt zurück/ vom Leben in Freiheit/ ohne Nation,/ohne Religion.

Alibri, Aschaffenburg, 2014. 157 Seiten, 12

 

Luise F. Pusch
Gerecht und Geschlecht - Neue sprachkritische Glossencover pusch

Luise Pusch – die Frau mit der Walkwoman – streift als feministische Sprachwissenschaftlerin und -akrobatin erneut durch den Malestream (Helke Sanders) des deutschen Sprachdschungels. Und deckt dabei mit gewohnt frecher und scharfzüngiger Rafinesse mal wieder allerhand Kurioses und Skurriles auf.

Warum es bezüglich weiblicher Weltenerschafferinnen besser doch Schöpferin statt „Herrin“ heißen soll, erschließt sich LeserInnen mit fehlenden feministisch geprägten Theologieschulungen vielleicht nicht unmittelbar. Doch Luise Pusch klärt auf: Auch wenn ihre Diskursgefährtin beharrt, ihre Kinder ja schließlich auch nicht zu „schöpfen“ sondern zu gebären, sei Schöpferin dennoch die vorzüglichste Bezeichnung für höhere weibliche Wesensarten. Immerhin leite sich SchöpferIn vom alten „Schaff“ (Schaffen) ab. Und da klingt Schöpferin doch allemal besser als „Erschafferin“. Oder nicht? Eben.

Was aber tun mit der Hausherrin, der Bauherrin? Die plumpe Pseudo-Feminisierung des generischen Maskulinums durch das bloße Anhängsel „-in“ ist ihre Sache nicht. Die Hausfrau-isierung der Hausherrin kommt jedoch auch nicht in Frage, ist die semantische Logik dahinter doch eine andere. Aber Luise Pusch wäre nicht Luise Pusch wenn ihr nicht auch hierzu noch eine spritzigwitzige Wortneuschöpfung einfiele. Wo wir schon bei der Göttin waren – warum nicht die Haushera?! Und die Bauhera.. und so weiter.

Im bekannten und geschätzten Schreibstil wird in rund 50 kurzweiligen Anekdoten und Glossen das sprachintellektuelle Kuriosum der Luise Pusch aus Alltagsbeobachtungen weiter ausgebreitet. Zu den unterschiedlichsten Themen, mal antik, mal modern – der iPod aber das iPad? – und sogar postmodern („Brauchen wir den Unterstrich?“), darf gedacht, gelacht und reflektiert werden.

Ein unbedingt lesenswertes Sammelsurium an Tiefsinnigem wie Abgründigem der deutschen Sprache, aber auch ihren mehr oder weniger gelungenen Versuchen, dieser durch „irgendwelche Wurmfortsatzbildungen“ beizukommen. Neutral ist/wäre gerecht. Fazit: Macht süchtig und lockert das Zwerchfell.

Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 140 Seiten, 9,90 €

 

Sabine Adatepe
Kein Frühling für Bahar
Mehr als eine Hamburger MigrationsgeschichteAdatepe

Die junge Deutschtürkin Bahar kommt unter ungeklärten Umständen in Hamburgs “Problemviertel” Wilhelmsburg ums Leben. Rasch verbreitet sich das Gerücht: “Ehren”-Mord! Ihr jüngerer Bruder wird festgenommen. Die Sozialberaterin Ina begibt sich auf Spurensuche in Wilhelmsburg. Im Wechsel mit Bahars Großvater im nordtürkischen Heimatdorf der Familie erzählt sie eine Geschichte von Migration und Emanzipation. Dabei loten die beiden auch persönliche Abgründe aus, sehen sich mit eigenen Vorurteilen konfrontiert und gleichzeitig gezwungen, althergebrachte Denkweisen zu hinterfragen. Für frischen Wind und einige Überraschungen sorgt dabei die junge Generation mit oder ohne Migrationshintergrund.

Die Autorin, Turkologin und Iranistin, hat einige Jahre in Istanbul verbracht. Sie vermag uns, nicht nur aufgrund der eingestreuten türkischen Redewendungen und Kosenamen, das Gefühl geben, den Unterhaltungen beizuwohnen, die Atmosphäre mit zu erleben, ja Teil einer türkischen Großfamilie zu werden.

Ein Jugendbuch.

Acabus, Hamburg, 2013. 234 Seiten, 11,90

 

Dorothea Czarnecki
Prostitution von Kindern in Guatemala
Mädchen zwischen Arbeit und kommerzieller sexueller AusbeutungCzarnecki

Bei der Dissertation handelt es sich um eine empirische Forschungsarbeit, die im Wesentlichen auf der Methode der problemzentrierten Interviewführung mit (ehemals) Betroffenen beruht und durch ExpertInneninterviews ergänzt wird.

Im Rahmen ihrer Studie hat Czarnecki neun Mädchen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren, welche als 8- bis 16-jährige in der Sexindustrie Guatemalas auf verschiedene Weisen in kommerzieller sexueller Ausbeutung „involviert waren, über einen Zeitraum von 6-12 Monaten begleitet und befragt. Sie waren als Prostituierte oder Bedienungen in entsprechenden landestypischen Bars und Bordellen eingesetzt und/ oder als Anwerberinnen tätig gewesen. Das Erkenntnisinteresse ist dabei auf die subjektive Perspektive der bereits seit ihrer Kindheit Ausgebeuteten gerichtet: Wie wurden die eigenen Erfahrungen wahrgenommen und subjektiv erlebt, wie wurden sie verarbeitet – und wie werden sie jetzt beurteilt? Bereits im Vorfeld der Untersuchung wird der Autorin in der Auseinandersetzung mit den Betroffenen vor Ort klar, dass diese sich selbst nicht ausschließlich in der Opferrolle sehen, sondern mitunter ihre Beschäftigung im „Sexgeschäft" als „selbstgewählte Tätigkeit" verstanden. Um sich diesen Widersprüchen verstehend anzunähern, fokussiert die Fragestellung der Untersuchung – auf Basis eines feministischen Grundverständnisses von strukturellen Geschlechterhierarchien und Gewaltverhältnissen – auf die subjektiven Bewältigungsstrategien der Frauen.

Die Forschungserkenntnisse werden zunächst in zwei umfangreichen Kapiteln theoretisch sehr differenziert eingeführt und gut verständlich dargestellt. Die Interview-Auszüge gewähren einen sehr intimen Einblick in die letztlich doch fremdbestimmte und stigmatisierte Lebensrealität der Betroffenen. Die von ihr typisierten Überlebensstrategien aus der Praxis der Betroffenen gleicht die Forscherin mit den lebensweltlichen Hintergründen (u.a. der Familiensituation) und gesellschaftlichen Strukturen ab, und entwickelt hieraus ein Modell unterschiedlicher „Risikopfade in das Sexgewerbe". So gibt das Buch Aufschluss zur Frage, was die pull- und push-Faktoren sind, die die Betroffenen in die sexuelle Ausbeutung sowohl strukturell drängen als auch in diese „hineinziehen".

Aufschlussreich dürfte diese Arbeit daher vor allem für jene professionell interessierten LeserInnenkreise (SozialarbeiterInnen, Beschäftigte in Menschen-/Kinderrechtsorganisationen und der Entwicklungszusammenarbeit) sein, die zu strategisch-präventiven Wegen aus der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen arbeiten.

Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2013. 306 Seiten, 44,- €

 

Waris Dirie
SAFA – Die Rettung der kleinen Wüstenblume cover safa

Sehr persönlich, emotional berührend und eindringlich schildert Waris Dirie zu Beginn des Buches noch einmal ihre eigene schmerzhafte Erfahrung mit weiblicher Genitalverstümmelung, Motiv ihres jahrelangen, zehrenden Kampf gegen diese gewaltvolle Praxis bis zur Gründung ihrer eigenen Stiftung gegen diese Tradition – der Desert Flower Foundation.

Als Waris Dirie 2013 einen Brief von der jungen Safa erhält, die die 5 Jahre alte kleine Waris im Film „Wüstenblume“ (OT: Desert Flower) verkörperte, inklusive der schrecklichen Beschneidungsszene, ist sie zutiefst berührt.  Aber auch erschüttert ob der Ausgrenzung des Mädchens aus seinem armen und traditionell geprägten Umfeld als „unreines“, weil nicht-beschnittenes Mädchen.

Die Autorin und ihr Filmteam hatten vor Beginn der Dreharbeiten einen Vertrag mit der Familie geschlossen, in dem die vertraglich zugesicherte Unversehrtheit des kleinen Mädchens der Familie im Gegenzug ein materiell besseres Leben bescherte. Als einzige in einem Slum der Hauptstadt Dschibuti verfügte Safas Familie nun über regelmäßige Versorgung mit Reis und anderen Lebensmitteln, Wasser und Elektrizität; Safa darf als eines der wenigen Kinder aus ihrer Gegend, als Mädchen noch dazu, zur Schule gehen.

Waris Dirie erzählt von ihrem überstürzten Aufbruch nach Dschibuti, als sie erfährt, dass Safas Eltern, insbesondere die Mutter, laut und öffentlich Überlegungen anstellt, die Unversehrtheit der Tochter doch noch dem traditionellen Ansehen zu opfern. Wild entschlossen macht sie sich auf den Weg das kleine Mädchen vor der Verstümmelung zu schützen – und ihre Familie langfristig in ein Engagement gegen FGM zu integrieren. Insbesondere Safas Vater kommt dabei, nach langem Ringen, eine Schlüsselrolle zu, die Anlass zu Hoffnung gibt.

Die sehr nah und intim erzählte wahre Geschichte über die Rettung des Mädchens durch den unerschütterlichen Einsatz der Autorin und Anti-FGM*-Aktivistin ist zugleich ein authentisches und eindringliches Plädoyer, im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen im Namen von Tradition, Ehre und Religion nichts unversucht zu lassen.

* Female Genital Mutilation

Droemer Knaur Verlag, München 2013. 300 Seiten, 19,99 €

 

Anna Palinski
Mein Leben gehört mir.
Geschichte einer BefreiungPalinski

Mit 19 zieht Anne 1987 von Güstrow nach Ostberlin und lernt dort Pieter, „das Lächeln“ kennen und lieben. An der Volksbühne findet sie eine lukrative Stelle, mit der sie zufrieden ist. Nicht so Pieter: In jedem Schauspieler macht er einen potentiellen Verführer aus und drängt Anne sogar aus dem Job. Seine Eifersucht und sein Kontrollzwang bestimmen die Beziehung immer mehr, können diese aber nicht gefährden. Während eines Besuchs bei Annes Eltern verkündet Pieter ihre Heirat – und überrumpelt sie. Seine zukünftige Frau hatte er zuvor nicht gefragt.

Während einer Reise begegnen sie zufällig Thomas und Anouk aus Hamburg. Die erwachsende Freundschaft ruft den Staatssicherheitsdienst auf den Plan, deren Beamte werden zu ihren treuen Begleitern. Schließlich beschließen sie die DDR zu verlassen. Am Grenzübergang werden sie angehalten, verhaftet und zermürbenden Verhören unterzogen. Als Anne das Angebot ablehnt für die Stasi zu arbeiten, landet sie im Frauenzuchthaus, aus dem sie nach sieben Monaten entlassen und mit ihrem Ehemann in den Westen abgeschoben wird. Dort werden sie von Thomas und Anouk mit offenen Armen empfangen.

Anne und Pieter richten sich schnell in Hamburg ein. Anne kommt in einer großen Blumenhandlung unter, wird bald Abteilungsleiterin und gründet nebenher eine eigene kleine Firma. Ein geglückter Neuanfang nach gemeinsam überstandener Flucht und Haftzeit: Ein Paar mit Fortune könnte man meinen.

Aber Pieter verleiht seinem Besitzanspruch immer vehementer Ausdruck. Nach einer Feier greift er zum Messer. Anne wird lernen, sich Pieter endgültig zu entziehen und die Tür hinter sich zu schließen.

Anna Palinski zeichnet mit ihrem Buch den Weg einer lebensbejahenden, tatkräftigen Frau nach, die sich weder durch den Staatsicherheitsdienst noch durch die Gewalttätigkeit ihres Partners brechen lässt. Aber ihre beeindruckende Biographie begnügt sich nicht mit der Beschreibung einer zusehend eskalierenden Gewaltbeziehung und undurchsichtiger Regimeschergen. Wir lernen auch den warmherzigen Kosmos ihrer Familie im ländlichen Güstrow kennen, begleiten sie auf ihre Feste mit großzügigen Freundinnen und Freunden, dürfen ihr sogar beim Zusammenbauen einer Sitzgruppe zusehen.

Pomaska-Brand Verlag, 2. Auflage 2011. 256 Seiten, 14,80 €

 

Dagmar Filter, Jana Reich (Hrsg.)
"Bei mir bist du schön..."
Kritische Reflexionen über Konzepte von Schönheit und KörperlichkeitCover

Der thematische Fokus dieses Sammelbandes liegt auf den scheinbaren Abweichungen von der Norm, der diskursiven Vermittlung "schöner" Körper durch Bild und Text sowie auf den Methoden der Körperinszenierung und -optimierung.

Neue Aspekte hinsichtlich dominanter heteronormativer Körpernormen und alltägliche Schönheitspraktiken werden in den Artikeln und in künstlerischen Auseinandersetzungen beleuchtet. Gesellschaftliche Normansprüche reichen in ihrer Wirkungsmacht weit hinein in die private Sphäre.

"Schönheit" ist in unserer Gesellschaft ein fest verankertes Motiv, das über privaten als auch beruflichen Erfolg mitentscheiden kann. Dick, dünn, behaart, unbehaart, jung, alt, männlich, weiblich oder irgendwie dazwischen: Das Äußere wird normiert, reguliert und manipuliert.

Viele Menschen unterziehen sich- scheinbar selbstbestimmt - freiwillig chirurgischen Eingriffen zur eigenen äußerlichen Optimierung, in vielen Fällen werden aber intergeschlechtliche Menschen zu einer körpernormalisierenden Operation gezwungen. Dieser Band will für die Widersprüchlichkeit neoliberaler Anrufungen sensibilisieren und Reflexionsprozesse anregen, um widerständige feministische Positionen zu schaffen.

Centaurus Verlag Freiburg, 2012. 280 Seiten, 24,80 €