Weibliche Genitalverstümmelung

Unsere Leseempfehlungen

Eine persönliche Rezension von Sanata Doumbia-Milkereit, ehrenamtliche Vorständin bei TERRE DES FEMMES

Dorothea Walter ist Mitfrau bei TERRE DES FEMMES und als ich The Big Twist gelesen habe, tat ich das mit dem besonderen Interesse, die Stimme einer engagierten Mitstreiterin zu hören. Was ich in den Händen hielt, war nicht einfach ein Buch, sondern ein bewegender, aufrüttelnder und zugleich zutiefst fürsorglicher Blick auf die Strukturen, die Frauen klein halten. Alles pur und ohne Beschönigungen.

Walter scheut keine unbequemen Themen. Sie spannt den Bogen von der rosa-blauen Codierung in der Kindermode über die Sexualisierung des kindlichen Körpers bis hin zur Verquickung von patriarchaler Norm und kapitalistischer Profitlogik. Mit historischen Beispielen zeigt sie, wie Geschlechterrollen nicht naturgegeben, sondern menschengemacht sind und wie sie sich in Kleidung, Sprache und Erziehung festschreiben. Die Autorin legt die ökonomischen Mechanismen offen: Da wären beispielsweise Gender-Marketing als Umsatztreiber, Konsum als Disziplinierung und Körpernormen als Machtinstrument.

Besonders eindrücklich beschreibt sie die historischen Ungerechtigkeiten. Die Ausgrenzung und Unsichtbarmachung von Wissenschaftlerinnen wie Lise Meitner, Jocelyn Bell Burnell oder Esther Lederberg. Das sind keine Fußnoten, sondern Beweise für eine Kontinuität der Entwertung weiblicher Beiträge. Angefangen vom Kinderzimmer bis zum Nobelpreis.

Was mir beim Lesen auffällt ist, dass Dorothea Walter keine fertigen Antworten liefert. Genau das betrachte ich als ihre Stärke. Sie setzt Impulse, die nicht im Buchdeckel enden. Manche Themen reißt sie nur an und gerade dadurch entfalten sie Wirkung. Etwa, wenn sie weibliche Genitalverstümmelung erwähnt. Dies macht sie kurz, klar und ohne Ausschweifungen. Solche Passagen lassen mich nicht los. Sie fordern dazu auf, selbst tiefer zu graben, weiter zu recherchieren und Fragen zu stellen. Dieses Buch entlässt niemanden in der Zuschauerrolle. Es drängt uns Lesende ins Handeln. Das mag auf dem ersten Blick vielleicht unbequem sein, jedoch empfinde ich dies als sehrwirksam.

Nicht jede These teile ich. Genau das macht das Buch für mich wertvoll. Manche Themen, wie etwa weibliche Genitalverstümmelung, werden sehr knapp angerissen. Das kann als Einladung zur eigenen Recherche gelesen werden, doch mir persönlich wäre hier mehr Tiefe wichtig. Auch die sehr konsequente Darstellung von Geschlechterrollen als ausschließlich sozial konstruiert hinterfrage ich: Für mich greifen biologische, psychologische und soziale Faktoren ineinander. Und bei aller berechtigten Kritik an kulturellen Narrativen, bin ich der Auffassung, dass sie auch empowern können. Zumindest in bestimmten Kontexten.

Als Psychologin lese ich dieses Buch auch als Analyse kollektiver Traumata. Es benennt die Geschichten, die wir uns über Geschlecht erzählen und wie sie sich in Körpern, Biografien und Strukturen fortsetzen. Walters Sprache empfinde ich als klar und kantig. Manchmal auch roh, aber nie zynisch. Hier merke ich, dass die Autorin nicht gefallen möchte, sondern bewegen will.

Sie bleibt konsequent. Genau das, was sie im Klappentext selbst als Ziel beschreibt: Bewusstsein schärfen und das schon als sinnvolle Aktion begreifen. Dass sie zudem drei Euro pro verkauftem Buch an ihre afghanischen Patentöchter spendet, zeigt, dass ihr Engagement nicht bei den Worten stehen bleibt.

The Big Twist lädt ein zum Dialog, zur Reibung, zur Reflexion und vereint all das, was eine lebendige feministische Bewegung braucht. Ich empfehle dieses Buch allen, die bereit sind, hinzusehen und neu zu denken. Über Gewalt, über Macht und über unsere gesamte gesellschaftliche Ordnung. Dorothea Walter erinnert uns daran, dass Veränderung mit Bewusstsein beginnt und dass dieses Bewusstsein unbequem sein muss, wenn es wirklich etwas verändern soll.

Ntailan Lolkoki: The Kingdom of Watetu and Songaland

  1. An African Fairytale
    Austin MaCauley Publishers, 2021. 154 Seiten, 11,36 €In englischer Sprache

Die Autorin Ntailan Lolkoki veröffentlicht mit diesem Buch ihr zweites Werk zum Thema FGM (female genital mutiliation/ weibliche Genitalverstümmelung). Als Betroffene hat Lolkoki es sich zur Aufgabe gemacht, über diese Praktik zu schreiben, um anderen Überlebenden damit zu helfen.

Das Buch erzählt, wie der Untertitel bereits nahelegt, die Märchengeschichte zweier afrikanischer Ethnien. In der einen Ethnie wird FGM praktiziert, in der anderen wird dieser Eingriff abgelehnt. Im Zentrum der Geschichte steht dabei ein junges Mädchen, die Prinzessin des Watetu-Stamms namens Mpeki, die Zeugin wird, wie ihre beste Freundin beschnitten wird. Das Miterleben deren Leides weckt in ihr große Zweifel an der Tradition und schließlich den Wunsch nach Widerstand gegen FGM. Sie beginnt gegen die Praktik zu kämpfen und lehnt sich gegen ihre Familie und ihre Ethnie auf. Nachdem sie erfolgreich die Beschneidung ihrer Schwester verhindern kann, flieht sie jedoch und begibt sich auf eine erlebnisreiche Reise.

Die Geschichte von Ntailan Lolkoki ist sehr umfassend. Sie beleuchtet nicht nur das Phänomen FGM, dessen Ursprung und Umsetzung, sondern verknüpft die Geschichte des Mädchens mit historischen Themen wie Sklaverei und Kolonialismus. Immer wieder hinterfragt die Autorin kritisch die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum der ganzen Geschichte bleibt aber eine junge Frau, die gegen alle Widerstände ihren Weg geht, die Hoffnung nicht verliert und immerzu einen Wandel in ihrer Heimat anstrebt.

Es ist beeindruckend, wie Ntailan Lolkoki die Themen FGM, Konflikt, Kolonialismus und gesellschaftlichen Wandel in einem kurzweiligen und ermutigenden Märchen miteinander verwebt und die LeserInnen mit auf eine augenöffnende Reise mitnimmt.

 

 

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