„Mein Herz gehört mir!“ – 18 Jahre Engagement gegen Zwangsverheiratungen

Plakat Kampagnenauftakt 2002 Wenn TERRE DES FEMMES (TDF) mit der diesjährigen Fahnenaktion am 25. November die neue Kampagne gegen Frühehen und Zwangsverheiratungen vor dem Brandenburger Tor einläutet, wird konsequent ein langjähriges Engagement fortgesetzt, an dessen Anfang die Benennung eines Tatbestands stand: Zwangsverheiratung ist eine Menschenrechtsverletzung, die auch in Deutschland begangen wird.

2002, als TDF – ebenfalls am 25. November, dem Tag „NEIN zu Gewalt an Frauen“ ­ die erste Kampagne gegen Zwangsverheiratungen vorstellte, war das Thema in der deutschen Öffentlichkeit mit einem Tabu behaftet.

Gegen ihren Willen, so die herrschende Meinung, wurden Mädchen und Frauen in fernen Ländern verheiratet. Aber in Deutschland? Nein.

Das Fest zum Auftakt

TDF entschied, die einjährige Kampagne „STOPPT Zwangsheirat“ feierlich mit einem Benefizabend in der Stuttgarter Liederhalle zu starten. In ihrer Begrüßungsrede betonte die Geschäftsführerin Christa Stolle denn auch die positive Symbolik des festlichen Charakters des Abends. Unter den Künstlerinnen, die mit ihrem Auftritt TDF in ihrem Anliegen unterstützten, gehörte die Sängerin Ina Deter, die Mezzosopranistin Bisseh Akame sowie die Soul-Interpretin und TDF-Schirmfrau Joy Denalane. Die Performancekünstlerin Diana Zöller inszenierte Ausschnitte der berühmt-berüchtigten Vagina Monologe von Eve Ensler.

Mit Serap Cilleli, die aus ihrem autobiographischen Buch „Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre“ vorlas, trat das Kampagnenthema mittelbar in den Fokus. Die aus der Türkei stammende Autorin gehörte zu den ersten von Zwangsheirat Betroffenen, die den Mut fanden, mit ihrer Leidensgeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.

Die Zahlen

Plakat Zwangsheirat: Wer entscheidet, wen du heiratest?Dass Zwangsverheiratungen auch in Deutschland keine Ausnahmeerscheinung waren, und welche traumatisierenden Folgen sie für die Betroffenen hatten, hatte TDF von Frauen erfahren, die wie Serap Cileli oder Fatma Bläser, es wagten, ihr Erlebtes nach Außen zu tragen.

Anrufe von besorgten LehrerInnen, die Anzeichen von Zwangsverheiratungen bei ihren Schülerinnen erkannt hatten, und vor allem die Rückmeldungen der Mitarbeiterinnen von Kriseneinrichtungen wie Papatya und Rosa ließen auf die Dringlichkeit und das Ausmaß des Phänomens schließen. So waren 20 bis 30 Prozent der Mädchen, die bei Papatya Hilfe suchten, von Zwangsheirat betroffen[1]

Die einzige bekannte Studie stammte von 1994: Die türkische Frauenrechtsaktivistin Pinar Ilkaraccan hatte in Berlin 130 türkische Frauen befragt und die Ergebnisse unter dem Titel „Das Märchen vom warmen Heim“ veröffentlicht. 42,6 Prozent waren im Alter von 13 bis 17 Jahren verheiratet worden. 25 Prozent hatten vor der Eheschließung ihre Ehemänner nie gesehen.[2]

Folgerichtig forderte TERRE DES FEMMES von der Politik auch eine Bestandsaufnahme und Analyse der aktuellen Situation.[3]

Sensibilisierungs- und Präventionsarbeit an Schulen

Zur Kampagne wurde das Buch „Zwangsheirat – Lebenslänglich für die Ehre“ herausgegeben, in dem das bisher gemiedene Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurde: Es versammelte soziale, juristische und ethnologische Analysen unterschiedlicher Autorinnen, aber auch Interviews mit Vertreterinnen von Beratungsstellen und mit Betroffenen.
Schulen als „oftmals einziger Ort, den potenziell betroffene Mädchen besuchen,“ wurde besondere Bedeutung beigemessen. Eine Unterrichtsmappe wurde erarbeitet und Plakate, die die Diskussion unter SchülerInnen anregen sollten, verteilt. Fortbildungen für Lehrpersonal und MitarbeiterInnen von Behörden sollten folgen und die nächsten Jahre zum Dauerangebot von TERRE DES FEMMES gehören.

Bewährt haben sich auch die später entwickelten interaktiven Theaterstücke, die die SchülerInnen in die direkte Auseinandersetzung mit dem Thema miteinbeziehen.

Lobbyarbeit auf der politischen Bühne

  • Repräsentative Zahlen müssen erhoben werden!
  • Bundesweit gibt es nur vier mädchenspezifische Schutzeinrichtungen! Das reicht nicht!
  • Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Migrantinnen müssen verbessert werden!
  • LehrerInnen, SchulsozialarbeiterInnen, FamilienrichterInnen oder MitarbeiterInnen im Jugendamt müssen sensibilisiert und geschult werden!

Um dem von der Politik weitgehend vernachlässigten Thema ein Forum zu bieten und den eigenen Forderungen Gehör zu schaffen, organisierte TERRE DES FEMMES im Kampagnenjahr 2003 regelmäßig Veranstaltungen mit PolitikerInnen unterschiedlicher Couleur.
Bereits am 9. April initiierte TDF in Kooperation mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein ein Fachgespräch zum Thema "Zwangsheirat".

In der positiven Bilanz am Ende der Kampagne wird konstatiert: Wir konnten unsere Forderungen auf Ministeriumsebene und parlamentarischer Ebene zum Ausdruck bringen.

Gute Arbeit!

Im Februar 2004 wurde die Kampagne „STOPPT Zwangsheirat“ vom „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ mit einem Preis über 5.000 € ausgezeichnet.

2011 sollte eine noch größere Belohnung für die jahrelange Arbeit folgen: Mit dem Zwangsheirats-Bekämpfungsgesetz wurde die langjährige Forderung von TERRE DES FEMMES nach einem eigenen Straftatbestand Zwangsheirat endlich erfüllt.

Die Präventions- und Lobbyarbeit blieb über die Jahre hinweg eine Konstante im Engagement von TERRE DES FEMMES gegen Zwangsverheiratungen und Frühehen.

18 Jahre nach der ersten Kampagne gegen Zwangsverheiratungen startet TDF ein neues Theaterprojekt für Jugendliche zur Prävention von Frühehen und Zwangsverheiratung. Das selbstbewusste Motto heißt Mein Herz gehört mir“.

 

Quellen und weiterführende Literatur

TERRE DES FEMMES e.V. (Hrsg.): ZWANGSHEIRAT – Lebenslänglich für die Ehre. Schriftenreihe NEIN zu Gewalt an Frauen. Tübingen, 2002; 2006 (2. Auflage)

Çileli, Serap: Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre. Michelstadt 2002 (2. Korr. Auflage)

Rizvi, Sylvia: Ich konnte mir nicht mal sein Alter merken. In: In Menschenrechte für die Frau 4/2000. S. 12 – 13.

Paulsen, Nicole: Benefizkonzert „frei leben“. In Menschenrechte für die Frau 1/2003. S. 6f

Volz, Rahel: Verliebt, verlobt, verheiratet. In: Menschenrechte für die Frau 4/2002. S. 4 – 6.

Volz, Rahel: Stoppt Zwangsheirat!. In: Menschenrechte für die Frau. 2/2004, S. 12 - 14

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Zwangsverheiratung in Deutschland - Anzahl und Analyse von Beratungsfällen. Berlin, Juni 2011

Lesetipps zur Fahnenaktion 2020: #meinherzgehörtmir – Gegen Zwangsverheiratung und Frühehen!

Informative Links

https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/gewalt-im-namen-der-ehre

https://www.zwangsheirat.de/index.php/startseite

https://www.girlsnotbrides.org/

 

Anmerkungen

[1] Volz, Rahel: Verliebt, verlobt, verheiratet. In: Menschenrechte für die Frau 4/2002. S. 5

[2] Volz, Rahel: Stoppt Zwangsheirat!. In: Menschenrechte für die Frau. 2/2004, S. 12

[3] In einer ersten Initiative hatte die Berliner Senatsverwaltung 2003 eine Umfrage unter 50 Einrichtungen erhoben: 230 Mädchen und Frauen, die zur Heirat gezwungen wurden, hatten sich 2002 an diese Einrichtungen gewandt. Erst im November 2011 stellte das BMFSFJ eine Studie vor, laut der sich bei 830 Beratungsstellen 3443 Personen gemeldet hatten, 93 Prozent von ihnen junge Frauen, weil ihnen eine Zwangsheirat angedroht wurde oder weil sie einer bereits geschlossenen Zwangsverheiratung entfliehen wollten.
(Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Zwangsverheiratung in Deutschland - Anzahl und Analyse von Beratungsfällen. Berlin, Juni 2011).

 

Stand: November 2020