Femizide auch hier: Was Sarah Everards Tod für Deutschland bedeutet

Plakat in London aufgehängt während einer stillen Mahnwache für Sarah Everard

Vor einem Monat wurde Sarah Everard getötet. Die 33-Jährige ist am 3. März auf dem Heimweg von einer Freundin in London mutmaßlich vom 48-jährigen Polizisten Wayne Couzens verschleppt und später ermordet worden. „Großbritannien und die Angst der Frauen“, titelte dazu die Süddeutsche Zeitung, als wäre das Problem die Angst und als wäre nur Großbritannien betroffen. In Großbritannien und Deutschland wird gleichermaßen jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Hinzu kommen die Tötungen durch Fremde. Sarah Everards Tod sollte Politik und Gesellschaft auch in Deutschland aufrütteln, gegen Femizide tätig zu werden.

Am Todestag von Sarah Everard, dem 3. März, wurde auch in Deutschland eine Frau getötet, in Berlin. Ebenso am Tag danach in Monheim. Zwei Tage vor Sarah Everards Tod wurden in Greiz und Nortorf zwei Frauen an einem Tag getötet. Laut Polizeistatistik wird in Deutschland alle drei Tage ein Femizid verübt. 2019 waren es demnach 114 Frauen, die laut Polizei in sogenannter Partnerschaftsgewalt getötet wurden. Und das ist nur die offizielle Zählung. Zahlen nicht-staatlicher AktivistInnen und ForscherInnen, wie Prof. Kristina Wolff vom Femicide Observation Center Germany (FOCG), sind weitaus höher und auch aufschlussreicher.1 Doch konzertierte staatliche Maßnahmen zum Schutz gibt es trotz der Dringlichkeit, die die Zahlen belegen, kaum.

Frauen müssen sich selbst schützen: #textmewhenyougethome

Sarah Everard ging nachts allein nach Hause. Das ist etwas, vor dem viele Frauen nach ihrer Ermordung unter dem Hashtag #textmewhenyougethome warnten. Unter diesem Hashtag teilten Frauen bedrohliche Erfahrungen im öffentlichen Raum. Die zahllosen Tweets zeigen auf, welches Ausmaß die reale Bedrohung von Frauen hat und auch, dass es Frauen sind, die sich um die Sicherheit anderer Frauen sorgen, wenn sie abends eine Freundin am Telefon nach Hause begleiten oder sich gegenseitig schreiben, dass sie sicher angekommen sind. Twitter-NutzerInnen teilten auch Tipps für Männer, wie sie auf Frauen im öffentlichen Raum weniger bedrohlich wirken können.

Solidarität ist gut. Doch sollte nicht vergessen werden, dass die Twitter-Tipps lediglich Notlösungen sind. Es sollte nicht die Aufgabe von Frauen oder Männern sein, dafür zu sorgen, nicht nachts auf dem Heimweg ermordet zu werden. Keine SMS, kein Umweg, kein Schlüsselbund in der geballten Faust kann verhindern, dass Frauen ermordet werden, weil sie Frauen sind. Umfassend schützen können Frauen nur politische und gesellschaftliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt.

Dass Sarah Everard mutmaßlich von einem Polizisten ermordet wurde und eine Mahnwache für die junge Frau in Polizeigewalt endete, zeigt, dass das System davon noch weit entfernt ist, die Rechte von Frauen ernst zu nehmen und zu schützen. Das London Police Department empfahl Frauen nach der Tat sogar, zu ihrer Sicherheit nicht nach draußen zu gehen. Das ist ein fatales Signal und victim blaming durch den Staat.

Bundesregierung muss aktiv werden

Auch in Deutschland gibt es erhebliche Mängel auf staatlicher Seite. So werden in der polizeilichen Statistik kaum Daten erhoben, die Aufschluss über Femizide geben. Kriminalstatistisch wird etwa weder erfasst, welche Tatmotive bei Tötungen von Frauen vorliegen, wie alt Täter und Opfer von Femiziden waren, wo sich die Taten zugetragen haben, ob Täter oder Opfer im Vorfeld mit Polizei oder Strafverfolgung in Kontakt standen, welche Berufe Opfer und Täter ausüben, ob Behinderung, Krankheit oder eine Schwangerschaft vorlag noch was die Todesursache war. Die detaillierteste Differenzierung in der Datenlage liegt zur Nationalität der Täter vor: Die überwiegende Mehrheit ist Deutsch. Die Zahlen, die in Deutschland vorliegen, beziehen sich zudem ausschließlich auf Femizide im sozialen Nahraum. Der Femizid an Sarah Everard – begangen auf offener Straße von einem Fremden – würde in der einzigen deutschen Statistik zu Gewalt gegen Frauen (Statistik Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalamts (BKA)) gar nicht erst auftauchen.

Nach BKA Statistik wurden 2019 in Deutschland 114 Frauen im sozialen Nahraum getötet.2 Die Zählung des FOCG geht von 173 Femiziden im selben Jahr aus. Die Analysen des FOCG wurden schon mehrmals von der UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen, Dubravka Šimonović, herangezogen und veröffentlicht.3

Das BKA und Frauenrechtsorganisationen sind sich einig in ihrer Einschätzung, dass Gewalt gegen Frauen immer weiter steigt. Das ist eine alarmierende Bilanz. Dennoch werden die offiziellen Zahlen zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland immer erst im November des Folgejahrs veröffentlicht. Das heißt, dass sich bis November 2021 die aktuellsten Zahlen auf 2019 beziehen. Um auf akute Entwicklungen reagieren zu können, braucht es dringend eine tagesaktuelle Veröffentlichung von Zahlen zu Femiziden von staatlicher Seite. Diese gibt es in Deutschland bislang nicht. Tagesaktuelle Erhebungen werden derzeit nur von nicht-staatlichen AkteurInnen, wie dem FOCG, veröffentlicht.

Forderungen von TERRE DES FEMMES

Eine solche tagesaktuelle Erhebung und eine umfassendere Datensammlung wurden in einem Antrag der Fraktion DIE LINKE gefordert, welcher zur ersten öffentlichen Bundestagsanhörung zu Femiziden führte, die es je in Deutschland gab. Diese fand am 1. März, zwei Tage vor Sarah Everards Tod, statt.4 TERRE DES FEMMES unterstützt diese Forderung der LINKE unter Federführung von Cornelia Möhring. Ein Problem kann außerdem nur bekämpft werden, wenn es verstanden und benannt wird. Daher müssen Tötungen von Frauen motiviert durch die hierarchischen Ungleichverhältnisse bzw. Besitzansprüche zwischen den Geschlechtern5 als Femizide benannt werden. Der Begriff „Partnerschaftsgewalt“ ist verharmlosend und blendet Femizide, die außerhalb des sozialen Nahraums passieren, aus. Außerdem braucht es eine europaweit einheitliche Definition.

Vielen Femiziden geht häusliche Gewalt voraus. Ein flächendeckendes und barrierefreies Versorgungsnetz mit Hilfs- und Schutzräumen für Frauen, wie Frauenhäuser, ist daher immens wichtig. Derzeit fehlen in Deutschland fast 15.000 Frauenhausplätze. Für Frauen, die keinen Schutz finden, kann dies lebensgefährlich sein.

Femizide, die im Zusammenhang mit einer Trennung stehen, werden häufig nicht als Mord, sondern als Totschlag verurteilt und folglich mit einer geringeren Strafe belegt. Strafverschärfung ist dringend nötig, damit Femizide angemessen belangt werden.

Auch braucht es Prävention im gesellschaftlichen Kontext. Daher fordert TERRE DES FEMMES neben der allgemeinen Aufklärung und Enttabuisierung auch Maßnahmen der Primärprävention für junge Menschen, um einen gesellschaftlichen Wandel von Grund auf zu fördern. Zudem sollten JournalistInnen sensibilisiert werden, um stereotype und einseitige Berichterstattung zu geschlechtsspezifischer Gewalt zu vermeiden. Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts müssen in der Presse als das benannt werden, was sie sind: Femizide.

Diese Forderungen entsprechen Deutschlands Verpflichtungen unter internationalem, in Deutschland geltenden Recht, welchem die Bundesregierung aktuell nicht nachkommt.6

Power“ und Handeln statt Angst

Einen Artikel zum Femizid an Sarah Everard betitelte die Deutsche Welle mit: „Für Frauen ist die Angst normal“. Nein, das ist sie nicht. Sie ist real, aber nicht normal. Sie ist internalisiert, aber nicht normal. Und vor allem ist sie systemisch bedingt und nicht normal. Den Schutz von Frauen einzufordern, der ihnen rechtmäßig zusteht, ist die Mission von TERRE DES FEMMES. Damit Frauen sicher sind und Gewalttäter sich sicher sein können, dass ihnen Strafverfolgung droht; vorbereitet und durchgeführt von gut geschulten PolizistInnen und JuristInnen. Damit sie sich sicher sein können, in umfassenden Statistiken aufzutauchen, die ihre Taten offenlegen und so den Weg für gezielte Prävention ebnen. Politik, Justiz und Medien müssen aktiv werden, denn Femizide sind Realität, auch in Deutschland.

 

3 Zur aktuellsten Veröffentlichung: https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Women/SR/Femicide/2020/CSOs/femicide-observation-center-germany-2.pdf . Weitere Informationen auf der Website von Prof. Wolff: https://kristina-wolff.de/

6 Artikel 4, 10, 11, 23, 46 der Istanbul Konvention: https://rm.coe.int/1680462535

 

Bildquelle: Flickr Tim Dennell CC BY-NC 2.0

30. März 2021