• 13.06.2024

Interview mit Dr. Michel Akotionga

Das Interview mit Dr. Michel Akotionga aus Burkina Faso macht deutlich, wie wenig Hilfe von FGM betroffene Frauen erhalten und wie wichtig es ist, dass es einen Arzt gibt, der gegen alle Widerstände seine Hilfe anbietet. Dr. Akotionga hat eine Operationsmethode entwickelt, die nur 20 Minuten dauert und die die Schmerzen der Frauen lindert, die an den Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung leiden.

Herr Dr. Akotionga, welche Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung bekommen Sie als praktizierender Gynäkologe besonders häufig zu sehen?

Besonders häufig treten nach einer Genitalverstümmelung Verwachsungen der kleinen Schamlippen, manchmal auch des gesamten Genitalbereichs auf, so dass Urin und Regelblut nicht abfließen können. Oft haben die Betroffenen starke Schmerzen, die den Geschlechtsverkehr verunmöglichen. Unfruchtbarkeit ist ein sehr häufiges Problem, mit dem Frauen sich an mich wenden (ca. 80 Prozent der Fälle, die ich ärztlich begleite), selbige steht aber nur selten in Bezug zur Genitalverstümmelung. Sehr viel häufiger ist, dass die Verwachsungen zu ernsthaften Geburtskomplikationen führen.

Wie lange dauert die von Ihnen angebotene Notoperation und wie teuer ist sie?

Ich habe eine Operationsmethode entwickelt, die nur 20 Minuten dauert. Als ich nach meiner Facharztausbildung in Frankreich und Benin zurück nach Burkina Faso kam, arbeitete ich am Uniklinikum und stellte dort fest, dass sehr viele Frauen mit den Folgeerscheinungen von FGM zu mir kamen. Operationen waren damals sehr aufwendig und teuer, so dass nur ganz wenige Frauen sie sich leisten konnten. Irgendwann kam ich auf die Idee, dass auch ein Eingriff mit lokaler Betäubung ausreichend sein könnte, und startete mithilfe meiner ehemaligen Assistentin eine Versuchsreihe, um dies möglich zu machen; und wir hatten Erfolg! Eine Notoperation kostet heute ca. 250.000 CFA-Franc (380 Euro), ein Beratungsgespräch vorab zwischen 10.000 und 15.000 CFA-Franc (15 - 25 Euro). Das ist für viele Frauen immer noch teuer, denn die wenigsten Menschen in Burkina Faso sind krankenversichert. Und selbst wenn, zahlen die Versicherungen nicht immer verlässlich. Wir sind deshalb sehr dankbar, dass ABN jährlich zwischen 10 und 15 dringend benötigte Operationen betroffener Frauen, die die Kosten dafür nicht tragen können, finanziell unterstützt.

Wie bereiten Sie Ihre Patientinnen auf die Operation vor?

Eine gute Beratung ist mir ganz wichtig. Es geht darum, dass die Frauen wissen, was sie erwartet, und Vertrauen aufbauen können. Ich betone vor allem, dass die Operation keine zweite Genitalverstümmelung darstellt, sondern ausschließlich dazu dient, die Einschränkungen, die die Frau durch die Genitalverstümmelung erfahren hat, zu beheben. Auch bemühe ich mich, den Frauen zu vermitteln, dass sie die Genitalverstümmelung nicht aus Boshaftigkeit ihrer Eltern erleiden mussten, sondern dass ihre Eltern so sozialisiert wurden, sprich dass es für die soziale Akzeptanz zur damaligen Zeit ein Muss war, dass eine Frau beschnitten ist. Wäre sie das nicht gewesen, hätte sie nicht der Gesellschaft angehört.

In meiner eigenen Kindheit lag die Betroffenenrate bei 100 Prozent. Wenn eine Frau drohte, unbeschnitten zu sterben, wurde sie noch schnell beschnitten, bevor ihr Tod verkündet wurde, sonst hätten die Kinder der Frau kein Recht auf ein Erbe gehabt. Sie hätten auch nicht mehr an bestimmten gesellschaftlichen Ereignissen teilnehmen dürfen. Heute, wenn Hebammen feststellen, dass ein Mädchen beschnitten ist, sind sie sehr überrascht, denn die Zeiten haben sich geändert. Auch wenn Genitalverstümmelung leider immer noch, immerhin seltener, vorkommt, entweder heimlich in Burkina Faso vor dem siebten Lebenstag eines Babys, oder später in einem Nachbarland ohne gesetzliches Verbot.

Nach der Beratung der Frauen beginne ich meist direkt mit der Operation – das Einverständnis der Frau vorausgesetzt. Geht eine Frau nach der Beratung nach Hause, kann es vorkommen, dass ein böswilliger Verwandter sich einmischt und die OP verhindert.

Wie geht es nach einer Operation weiter? Wann sind die Frauen wieder genesen?

Nach einer Operation stehen binnen drei Wochen vier Kontrolltermine an, zu denen die Frauen erneut in meine Praxis kommen. Zwischen diesen Terminen kümmern sich die Frauen selbst um ihre Heilung, v.a. mit Betadine (Desinfektionsmittel), Salbe und durch Einnahme von Antibiotika. Danach können die Frauen ihren Alltag schmerzfrei wiederaufnehmen.

Woher kommen die Frauen, die sich bei Ihnen einer Notoperation unterziehen?

Die Frauen kommen aus ganz Burkina Faso, aber auch aus anderen Ländern. Einmal reiste eine Frau aus Dschibuti an und lief mit ihrem Koffer und einem alten Handy mit GPS in der Hand vom Flughafen aus direkt in meine Praxis. Sie war von der schwersten Form der Genitalverstümmelung, einer Infibulation, betroffen. ÄrztInnen in ihrem eigenen Land hatten sich geweigert, sie zu operieren. Direkt nach ihrer Ankunft führten wir ein Beratungsgespräch, dann operierte ich sie und nach einer Woche konnte sie nach Dschibuti zurückkehren. Zu mir kommen v.a. die schwierigen oder besonders komplizierten Fälle – Frauen, die teils seit Jahren an heftigen, oft chronischen Schmerzen leiden. Seit der Entwicklung der niedrigschwelligen und günstigeren Operationsmethode nach erlittener Genitalverstümmelung habe ich rund 5.000 Frauen behandelt.

Erfahren Sie Widerstand wegen Ihres Einsatzes für Frauen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind, z.B. von Männern oder BefürworterInnen der Praktik?

Widerstand von Männern oder anderen Familienangehörigen ist selten. Sie sind sich des Leidens der betroffenen Frauen meist sehr bewusst. Etliche Frauen werden von ihren Männern, viele auch von ihrer Schwiegermutter, in meine Praxis gebracht. Ich habe allerdings schon Widerstand von Familienmitgliedern erlebt: in Bamako/Mali untersuchte ich einmal eine minderjährige Frau, die schwerwiegende Verwachsungen infolge der Genitalverstümmelung hatte, und bei jeder Regelblutung vor Schmerzen weinte. Der Vater stimmte der geplanten Notoperation zu, die Mutter war jedoch strikt dagegen.

Bei einer Aufklärungsveranstaltung zusammen mit ABN warf zudem einmal ein Widersacher Steine auf Rakieta, die ABN-Gründerin und Leiterin, und mich. Ansonsten werde ich aber nicht persönlich bedroht oder angegriffen. Ich bin häufig in den öffentlichen Medien zu sehen oder in Talkshows eingeladen, da bekomme ich viel positives Feedback. Menschen signalisieren mir, dass sie sich über meine Arbeit freuen.

Geben Sie Ihr Wissen auch an andere ÄrztInnen weiter?

Unbedingt, das ist für mich essenziell! Bis heute habe ich 600 ÄrztInnen in Burkina Faso geschult, Notoperationen nach erlittener Genitalverstümmelung durchzuführen. Außerdem konnte ich mein Wissen an ÄrztInnen aus Kenia und der Côte d’Ivoire weitergeben. Multiplikation spielt eine sehr große Rolle für mich. Ich fungiere auch als Experte für weibliche Genitalverstümmelung und deren Folgen gegenüber der Weltgesundheitsorganisation. Nicht zuletzt ist eine meiner Töchter Gynäkologin geworden. Auch an sie gebe ich meine Erfahrungen weiter.

Welche Reaktionen zeigen die betroffenen Frauen nach einer erfolgreichen Notoperation?

Die Frauen sind unglaublich erleichtert und dankbar. Sie können wieder Lebensfreude empfinden. Für die Mehrzahl endet ein jahrelanges Martyrium. Viele Frauen, die sich bei mir operieren ließen, gaben ihren Söhnen, die nach der Operation zur Welt kamen, den Namen „Michel“ – meinen Vornamen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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