• 11.07.2022

Für das Recht aufzubegehren - und tradierte Rollenbilder zu durchbrechen

TDF-Demon 2008 für Morsal Obeidi
© TERRE DES FEMMES

Weiße Rosen zum Gedenken an Morsal

Zum Prozessauftakt gegen Ahmad O. am 16. Dezember 2008 lud TERRE DES FEMMES zu einer Kundgebung und Gedenkveranstaltung für Morsal O. vor dem Landesgericht in Hamburg ein. In ihrem Redebeitrag forderte TDF-Referentin Sibylle Schreiber u.a. die Förderung spezieller Einrichtungen und die Verbesserung interkultureller Kompetenzen von PädagogInnen und MitarbeiterInenn von Behörden. Die Soziologin (und spätere TDF-Vorstandsfrau) Necla Kelek warnte davor, „solche Taten als kulturelle Eigenheiten hinzunehmen und damit einen Bonus für Selbstjustiz zu geben“. Nazanin Bouromand vom Verein „Vergesst niemals Hatun!“ betonte denn auch, dass das Recht auf Selbstbestimmung universell gelte. Nach einer Schweigeminute legten die sichtlich berührten Anwesenden vor Morsals Portraitfoto eine weiße Rose nieder. Dank der guten Medienpräsenz erhielt der Morsals Ermordung und das „Phänomen“ Ehrverbrechen die gebührende Beachtung.[2]

Ein Mord mit Ankündigung

Dass TDF die Forderung Schulpersonal und Behörden interkulturell zu sensibilisieren, im „Fall“ Morsal mit Nachdruck wiederholte, war auch im erschütternden Leidensweg des Mädchens begründet: Ihr Mord besiegelte ein allzu kurzes von familiärer Gewalt und Erniedrigung bestimmtes Leben.

Denn das junge Mädchen, das mit drei Jahren aus Kabul nach Hamburg gekommen war, sträubte sich den von der Familie für sie vorgesehenen Lebensplan zu erfüllen. Sie wollte nach ihren Vorstellungen leben. Zu westlich, zu provozierend sei ihr Kleidungstil, ihre Schminke, ihre Freizeitgestaltung – befand ihre Familie. Sie soll regelmäßig, vor allem von ihrem Bruder Ahmad, verprügelt und überwacht worden sein.

Ein Klassenfoto, auf dem Morsal O., damals wohl noch 14 Jahre alt, zufällig zwischen zwei Mitschülern stand, soll der Auslöser des ersten gewalttätigen Übergriffs des Vaters und des älteren Bruders gewesen sein.

Dieser soll einmal sogar versucht haben, ihr die Kleidung an den Körper zu tackern, gibt Morsal der Polizei gegenüber zu Protokoll. Morddrohungen soll er ausgestoßen haben. Auch das gibt zu Protokoll.[3]

Sie hatte ihren eigenen Kopf, aber die Familie ging ihr über alles

Unzählige Male hat sie die Polizei alarmiert, um fast genauso oft ihre Anzeige zurückzuziehen. Ende März 2008 verprügelt Ahmad sie in Anwesenheit der von ihr gerufenen BeamtInnen. Diese bringen sie in ein Mädchenheim. Immer wieder lässt sie sich in Heime des Kinder- und Jugendnotdienstes bringen und kehrt doch jedes Mal zur Familie zurück.

Während die Geschwister sich an die strengen afghanischen Regeln hielten, hatte sie ihren eigenen Kopf“ wird der Richter später sagen[4]. Aber Morsal hatte auch eine starke Bindung zu ihrer Familie. Diese sollte ihr zum Verhängnis werden.[5]

Denn Behörden hätte ihre Gefährdung dennoch klar sein müssen, zumal Ahmad der Polizei als Intensivtäter bekannt war. Am 16. Mai 2008, ein Tag nach dem Mord an seiner Schwester hätte er wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen eine Haftstrafe antreten müssen.

Tumulte nach der Urteilsverkündung

TERRE DES FEMMES verfolgte aufmerksam den Prozess. Am Tag der Urteilsverkündung veranstalteten die Frauen der Hamburger Städtegruppe eine Mahnwache. Vor dem OLG hatten sie eine große Kerze mit dem Portrait und ein Foto von Morsal aufgestellt.

Ahmad wurde des heimtückischen Mordes schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Verteidigung hatte auf Totschlag und verminderte Schuldfähigkeit plädiert.
Während der Urteilsverkündung kam es im Gerichtssaal zu Tumulten und Wehklagen.
Der Vorsitzende Richter wandte sich auch an die Eltern. Zwar seien sie nicht mitangeklagt, aber „wenigstens eine hohe moralische Mitschuld“ träfe sie.[6] Unverständnis schlug ihm entgegen.

Wohl unter dem Eindruck des Urteils stürmte Morsals Vater aus dem Gericht und schleuderte die Kerze mit dem Portrait seiner Tochter zu Boden.[7]

Der 15. Mai: Gedenktag für alle, die im Namen der Ehre ermordet wurden oder Leid erleben mussten

Morsals Schicksal bleibt unvergessen. Ihr Todestag ist für TERRE DES FEMMES ein jährlicher Gedenktag, wie auch der 7. Februar, der Tag an dem Hatun Sürücü 2005 von ihrem Bruder im Namen der sogenannten Ehre ermordet wurde. Es sind Tage, an denen wir ein Zeichen setzen wollen gegen Gewalt, die im Namen der sogenannten Ehre verübt wird, Gewalt, die von patriarchalen Normen diktiert wird, und vor allem Frauen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert.

Für die Jahre 2021 und 2020 hat TERRE DES FEMMES  25 Fälle versuchter oder vollzogener tödlicher Ehrverbrechen in Deutschland identifiziert.[8]

Unsere politische Lobbyarbeit und Aufklärungsarbeit an Schulen und in Behörden hat nichts an Dringlichkeit verloren.

MEHR LESEN: Hier finden Sie den aktuellen TDF-Überblick über aktuell laufende mutmaßliche „Ehren“-Mordprozesse und laufende Ermittlungen.

 

Quellen:

Hans, Barbara: "Ehrenmord" in Hamburg: Das lange Leiden der Morsal Obeidi. In: Spiegel online, vom

29.05.2008, letzter Zurgriff am 12.05.202, 18:55 Uhr

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ehrenmord-in-hamburg-das-lange-leiden-der-morsal-obeidi-a-556404.html

Weschler, Annika: Ein Zeichen gegen „Ehrenmorde“. Maßnahmen gegen Gewalt im Namen der Ehre. In Frauensolidarität 1/2009, Wien 2009, S. 24 f.

Landesgericht Hamburg Urt. v. 13.02.2009, Az.: 621 Ks 17/08

Berliner Morgenpost: Schwere Tumulte nach Urteil im Morsal-Prozess, 13.02.2009; 12:28

Hans, Barbara: "Ehrenmord" in Hamburg: Das lange Leiden der Morsal Obeidi. In: Spiegel online, vom

29.05.2008, letzter Zurgriff am 12.05.202, 18:55 Uhr

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ehrenmord-in-hamburg-das-lange-leiden-der-morsal-obeidi-a-556404.html

Weiterführende Infos zur Arbeit von TERRE DES FEMMES Gewalt im Namen der Ehre

https://zwangsheirat.de/index.php/startseite

Stand: 3. Mai 2022

[1] Landesgericht Hamburg Urt. v. 13.02.2009, Az.: 621 Ks 17/08

[2] Weschler, Annika: Ein Zeichen gegen „Ehrenmorde“. Maßnahmen gegen Gewalt im Namen der Ehre. In Frauensolidarität 1/2009, Wien 2009, S. 24 f.

[3] Hans, Barbara: "Ehrenmord" in Hamburg: Das lange Leiden der Morsal Obeidi. In: Spiegel online, vom

29.05.2008, letzter Zurgriff am 12.05.202, 18:55 Uhr

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ehrenmord-in-hamburg-das-lange-leiden-der-morsal-obeidi-a-556404.html

[4] Berliner Morgenpost: Schwere Tumulte nach Urteil im Morsal-Prozess, 13.02.2009; 12:28

https://www.morgenpost.de/vermischtes/article103872304/Schwere-Tumulte-nach-Urteil-im-Morsal-Prozess.html, letzter Zugriff am 12.05.2022, 17:25 Uhr

[5] Weschler, Annika, 2009; Hans, Barbara, 2008

[6] Berliner Morgenpost 2009

[7] Hamburger Morgenpost vom 14.02.2009

[8] https://www.zwangsheirat.de/aktuelles/466-im-gedenken-an-hatun-sueruecue-gewalt-im-namen-der-ehre-nach-wie-vor-unvermindert-hoch

nach oben
Jetzt spenden