Aktuelle bundesweite TERRE DES FEMMES Umfrage 2024 zum "Kinderkopftuch"

Wir wollen verstehen, wie sich das „Kinderkopftuch“ auf die persönliche Entwicklung von Mädchen auswirkt und was Bildungseinrichtungen brauchen, um gleichberechtigtes Lernen zu ermöglichen.

Es gibt noch immer kaum Daten und Erkenntnisse wie viele Mädchen in Deutschland aufgrund des „Kinderkopftuchs“ in ihrer persönlichen Entwicklung eingeschränkt werden und inwieweit das Kindeswohl davon betroffen ist. Betroffene, Lehrkräfte, SchulsozialarbeiterInnen sowie ErzieherInnen berichten gegenüber TERRE DES FEMMES, dass sie erleben, wie immer mehr und immer jüngere Mädchen ein „Kinderkopftuch“ in öffentlichen Bildungsräumen tragen. Sie berichten auch, dass mit dem „Kinderkopftuch“ weitere Einschränkungen erfolgen. Daher beschloss TERRE DES FEMMES bereits 2019 eine bundesweite Umfrage unter pädagogischem Fachpersonal durchzuführen. Doch auch fünf Jahre später ist die Datenlage dünn und gab Anlass, die Umfrage aus dem Jahr 2019 zu wiederholen und durch Fragen zu ergänzen.

Neue Umfrage für neue Erkenntnisse

Mitte April 2024 erfolgte ein Mailing an öffentliche Bildungseinrichtungen, mit der Bitte an der Umfrage anonym teilzunehmen. Bis Ende Mai 2024 haben 784 Teilnehmende aus allen Bundesländern an der Umfrage teilgenommen, die mit Hilfe der Software LamaPoll erfasst und ausgewertet wurde.

Die 16 Fragen der Umfrage beinhalteten sowohl geschlossene Fragen wie auch die Möglichkeit, freie Antworten zu geben. Aus den geschlossenen Fragen lassen sich Rückschlüsse ableiten, wie viele Mädchen ab welchem Alter und mit welcher Begründung ein „Kinderkopftuch“ tragen und ob die Befragten Verhaltensänderungen bei den Mädchen mit „Kinderkopftuch“ feststellen konnten. Die offenen Antwortmöglichkeiten wurden von einer Vielzahl der Teilnehmenden genutzt, um ihre Eindrücke und Perspektiven einzubringen.

Der Mythos „Kleidung schützt vor sexualisierter Gewalt“

Erschreckend sind die Zitate der Befragten zur sexuellen Nötigung und der vermeintlichen Sicherheit durch das „Kinderkopftuch“. Lehrkräfte berichten, dass Mädchen sich mit dem „Kinderkopftuch“ vor den Blicken von Jungen und Männern geschützt fühlen und eher respektiert werden als Mädchen ohne „Kinderkopftuch“. Die tief verankerte patriarchale Vorstellung, dass bestimmte Kleidung vor Übergriffen schützt oder sie im anderen Fall begünstigt, muss aufgebrochen werden. Es ist nie die Kleidung von Mädchen oder Frauen, sondern immer das misogyne Bild des Täters, welches zu Übergriffen führt. Die Frage nach der Kleidung ist immer eine Täter-Opfer-Umkehr.

Das „Kinderkopftuch“ bedeutet Frühsexualisierung und begünstigt religiöses Mobbing

Anknüpfend an den Mythos „Kleidung schützt vor Gewalt“ steht das Kinderkopftuch“ immer für die Frühsexualisierung von Mädchen. In vielen Religionen, so auch im Christentum, Judentum und im Islam, steht die Bedeckung des Haars für sexuelle Nichtverfügbarkeit. Diese wird nicht vorausgesetzt, sondern muss äußerlich sichtbar gemacht werden. Daher ist das „Kinderkopftuch“ kein harmloses Stück Stoff, sondern eine frühe Sexualisierung von Mädchen.

Religiöses Mobbing kann vielfältige Formen annehmen. Mädchen, die bereits ein „Kinderkopftuch“ tragen, können ebenso betroffen sein, wie Mädchen, die (noch) kein „Kinderkopftuch“ tragen. Oft berichten die Befragten, gehe es bei den SchülerInnen um das Narrativ, was eine „richtigen Muslimin“ sei. Mädchen ohne „Kinderkopftuch“ werden gemobbt und ausgegrenzt. Neben dem „Kinderkopftuch“ spielt auch körperbedeckende Kleidung und die Teilnahme am Schwimm- und Sportunterricht eine Rolle.

Schule als Freiraum zum Schutz des Kindeswohl

In der Umfrage ging es auch um die Frage der Freiwilligkeit. Wird das „Kinderkopftuch“ nicht freiwillig getragen, ist dies ein starker Indikator für eine patriarchal-autoritäre Erziehung. Aus den Ergebnissen wird ersichtlich, dass es sich nicht um Einzelfälle oder um ein Randphänom handelt, sondern zehntausende Mädchen in Deutschland betrifft.  Schule muss für alle Mädchen, unabhängig ihres Elternhauses, ein geschützter Raum sein. Alle Mädchen sollten bestärkt werden, im Unterricht traditionelle Rollenvorstellungen und Familienkonstellationen zu hinterfragen sowie eigene Entscheidungen hinsichtlich PartnerInnen- und Berufswahl zu treffen.

Die Umfrage 2024 zeigt einen signifikanten Anstieg der Nichtteilnahme von Mädchen mit „Kinderkopftuch“ am Sexualkundeunterricht. Ein Unterricht, in dem es auch um Themen wie Einvernehmlichkeit sexueller Handlungen, sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit geht. Das Grundgesetz fordert die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 GG) und sichert allen das Recht zu religiös zu sein oder nicht und über den eigenen Körper und die eigene Sexualität selbst zu bestimmen. Das sind mit die wichtigsten Errungenschaften in unserer Demokratie.

Und jetzt?

Die Ergebnisse der Umfrage machen den Handlungsbedarf sehr deutlich. In den letzten 5 Jahren hat sich die Situation für betroffene Mädchen weiter verschlechtert. Ihre Selbstbestimmung ist stark gefährdet. Mit dem "Kinderkopftuch" wird ihr Recht auf gleiche Bildungschancen bereits sehr früh einschränkt. Eingeschränkt werden auch die Lehrkräfte, die die Mädchen nicht erreichen und hinnehmen müssen, dass ihre Schülerinnen durch Religion ausgegrenzt werden. Das muss sich ändern. Das Klassenzimmer muss frei von religiösen Symbolen und patriarchaler Kontrolle sein. Das heißt: Der öffentliche Bildungsraum muss ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Aufwachsen von Mädchen sicherstellen.

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