Ein bewegendes Gespräch über das "Kinderkopftuch"
Im Jahr 2020 kontaktierte uns eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die von unserer Petition „DEN KOPF FREI HABEN!“ gehört hatte. Darin fordern wir eine gesetzliche Regelung des sogenannten Kinderkopftuchs in öffentlichen Bildungseinrichtungen für minderjährige Mädchen. Wir nennen nicht den vollen Namen von Frau K., weil es zu erneuten Verwerfungen mit ihren Eltern kommen könnte.
Sie schrieb uns, dass sie selber bereits als Kind Kopftuch getragen habe und uns von ihren Erfahrungen berichten möchte. Wir veröffentlichen hier mit wenigen Kürzungen die Transkription dieses Gesprächs, welches am 05.02.2020 stattgefunden hat. Frau K., 45 Jahre alt und türkischer Herkunft, möchte anonym bleiben.
Frau K. teilt ihre Geschichte und appelliert an die Freiheit der Mädchen. Sie sagt: "Ich habe mich extrem angepasst, um Anerkennung von meinen Eltern zu bekommen"
TDF: Frau K., Sie haben sich an TERRE DES FEMMES gewandt, weil Sie die Petition „DEN KOPF FREI HABEN!“ unterstützen. Wie ist Ihre persönliche Beziehung zum Kopftuch?
Frau K.: Das ist eine schwierige Frage. Das Kopftuch hat fast mein gesamtes Leben geprägt und deswegen fühlte ich mich gleich angesprochen von Ihrer Petition. Sie hat mir aus dem Herzen gesprochen und ist eine sehr gute und sinnvolle Aktion, die ich aufgrund meiner eigenen Lebenserfahrungen unbedingt unterstützen möchte.
TDF: Ab welchem Alter und wie lange haben Sie das Kopftuch getragen?
Frau K.: Ab neun Jahren wurde ich an das Kopftuch herangeführt. Ich habe es ab und zu in der Freizeit getragen oder wenn wir zu religiösen Unterweisungen gegangen sind. Richtig fest getragen habe ich es dann mit dreizehn. Dreiundzwanzig Jahre lang sollte es dann auch nicht mehr abkommen.
TDF: Wenn Sie zurückblicken, können Sie sagen, warum Sie sich damals entschieden haben, ein Kopftuch zu tragen?
Frau K.: Ich habe mich nicht selber entschieden, das war eine lange familiäre Geschichte. Meine Eltern kamen Anfang der 70er Jahre als Gastarbeiter aus der Türkei. Erst hatten wir gar nichts mit Religion zu tun. Doch irgendwann wurden meine Eltern religiöser, der Islam wurde wichtiger für sie. Wir sollten dann anfangen, die Grundlagen der Religion zu lernen. Wir wurden zu einem „Hoca“ gebracht, also einem islamischen Lehrer, der aber keiner war. Ich fand das sehr befremdlich, denn ich kannte ihn nicht. Der sogenannte Hoca war sehr streng, und ich sollte Dinge auswendig lernen, die ich nicht verstand. Ich kann die arabischen Formeln immer noch auswendig, weiß aber auch heute nicht, was sie bedeuten. Das waren meine ersten Berührungspunkte mit religiösen Praktiken.
TDF: Wie hat sich das Tragen eines Kopftuchs in einem so jungen Alter auf Sie ausgewirkt?
Frau K.: Zuerst war es noch spielerisch, mit acht oder neun Jahren. Wir haben es zu Hause getragen, traditionell – wie bei uns in der Türkei auf dem Dorf – nach hinten gebunden. Kopftücher mit Spitzen an den Rändern, die wir auch selber gehäkelt haben. Das waren bunte Tücher und die Erwachsenen sagten dann: „Ach, das sieht ja so hübsch aus, wie du aussiehst!“ Das war noch ganz harmlos. Und es war ja auch zu Hause, im geschützten Rahmen.
Mein Vater und meine Mutter sind dann einer religiösen Sekte beigetreten. Also ich sage, dass es eine Sekte war. Und zwar war das Millî Görüş. Diese Organisation mit Hauptsitz in Köln, hatte in den 80er und 90er Jahre viele Merkmale einer Sekte. Wir hatten Anführer, hatten gleiche Kleidung und uns wurde gepredigt, dass es nur eine Wahrheit, die von Millî Görüş, gab. Sie nannten das „Adil Düzen“ was mit gerechter Weltordnung übersetzt werden kann. Auf einmal separierten wir uns von Freunden, Nachbarn und Verwandten, denn sie waren ja nach deren Ideologie auf dem „falschen Weg“. Millî Görüş hat so immensen Einfluss auf uns gehabt. Danach war das Kopftuch nur noch der Punkt auf dem i. Mein ganzes Leben, unser ganzes Familienleben hat sich dann komplett verändert. Meine Freundinnen in der Schule haben sich von mir abgewandt. Ich war vielleicht zehn, als die „Gehirnwäsche“ begann.
TDF: Das heißt, Sie würden das Kopftuch in diesem Fall gar nicht losgelöst von weiteren Verhaltensvorschriften betrachten?
Frau K.: Ja, genau. Das war dann ganz radikal. Wir trugen lange Röcke und weite lange Blusen. Man konnte uns als Zugehörige von Millî Görüş erkennen. Man durfte halt nur die Hände sehen und das Gesicht.
Und wenn Sie fragen, wie sich das ausgewirkt hat, würde ich natürlich sagen: fatal! Auf meine komplette seelische und körperliche Entwicklung. Uns wurde Angst gemacht, dass wir in die Hölle kommen, wenn wir uns nicht bedecken. Noch nicht einmal ein Haar durfte sichtbar sein. Viele Jahre litt ich fortan unter Ängsten und zupfte ständig an meinem Kopftuch und meiner Kleidung herum- damit ja nichts zu sehen war oder verrutschte.
Ich war ein Kind, welches noch gerne spielte. Ich war noch gar nicht in der Pubertät. Ich habe gerne mit meinen Haaren gespielt und liebte schöne Kleider mit kurzen Ärmeln. Ich war sehr beliebt in der Verwandtschaft: „Ach, du bist unsere Kleine, unsere Hübsche!“ haben alle gesagt und mich umarmt.
Und auf einmal sollte das aufhören, von heute auf morgen! Plötzlich konnte keiner meiner männlichen Verwandten mehr was sagen oder mich einfach unbeschwert lieb haben. Ich war ein Kind und musste meine Haarspangen und meine schönen Ohrringe, die ich so gerne getragen habe, wegtun, weil das Kopftuch alles überdeckt hat. Ich liebte doch Röcke und kurze T-Shirts! Das war dann vorbei mit einem Mal. Die Haare, meine Schönheit waren nicht mehr wichtig. Ich liebte meine Haare so! Ich hatte so schöne, lange, braune Locken bevor ich das Kopftuch dran gemacht habe. Von meinem dreizehnten bis zu meinem sechsunddreißigsten Lebensjahr trug ich es dann jeden Tag- ununterbrochen, außer nachts und unter näheren Verwandten und Frauen. Als ich es dann abgemacht habe, waren meine Haare nicht mehr lang und sie waren nicht mehr lockig. Das war sehr schmerzhaft! Mir einzugestehen, dass ich meine Jugend nicht mehr zurückholen konnte. Außerdem hatte ich keinen Bezug zu meinen Haaren. Ich wusste nicht, wie ich mich frisieren und was ich mit ihnen anstellen sollte. Freunde halfen mir und gaben mir Tipps.
TDF: Haben Sie sich als Kind dem Ganzen dann widersetzt?
Frau K.: Das kam überhaupt nicht in Frage! Ich wollte geliebt werden und ich wollte überleben. Man ist als Kind auf die Liebe der Eltern angewiesen. Kinder sind ja auch schlau und ich wusste natürlich, was besonders mein Vater wollte. Mein Vater konnte keine Liebe zeigen und ich habe immer versucht, ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen, damit ich von ihm gesehen werde. Er musste gar nichts sagen, ich wusste ganz genau, was mein Vater sich wünschte, wie ich mich zu kleiden und zu verhalten hatte. Ich habe mich extrem angepasst, um Anerkennung von meinen Eltern zu bekommen.
TDF: Vielen Dank, Frau K., für dieses sehr persönliche und emotionale Gespräch! Wir haben viel daraus mitgenommen und sind dankbar für Ihre Offenheit. Gibt es noch etwas, das Sie ergänzen möchten?
Frau K.: Ich will schmerzliche Erinnerungen an das Leben mit Kopftuch überwinden. In einem so kurzen Interview kann ich nicht alles erzählen. Das Thema hat mein Leben zu sehr geprägt. Aber jetzt bin ich sehr stark und unabhängig.
Was mir beim Abmachen des Kopftuchs sehr geholfen hat, waren Vorbilder. Ich habe sehr viel im Internet recherchiert. Habe mir alles angeschaut und durchgelesen zu dem Thema. Frauen, die in der gleichen Situation wie ich waren und Interviews gegeben haben. Das hat mir sehr geholfen. Deshalb gebe ich heute dieses Interview, um Mädchen und Frauen zu motivieren ihren eigenen Weg zu gehen und das Kopftuch abzumachen, wenn sie es möchten.
Ihnen sage ich, es ist ein schwerer Weg, aber es lohnt sich. Ich wünsche euch viel Kraft.