• 14.09.2022

Neue Schätzung: 73% der Zwangsverheiratungen wurden von den eigenen Eltern initiiert

Laut der im September 2022 herausgegebenen Schätzung „Global Estimates of Modern Slavery: Forced Labour and Forced Marriage“ waren in 73% der Fälle die eigenen Eltern für eine Zwangsverheiratung verantwortlich, in weiteren 16% andere nahestehende Familienmitglieder.

Abb. a) Quelle: ILO u.a.: Global Estimates of Modern Slavery, 2021, S. 68.Überall auf der Welt ist für Mädchen und Frauen das Risiko ungleich höher gegen den eigenen Willen verheiratet zu werden oder verheiratet zu bleiben. Eine im Herbst 2022 veröffentlichte Schätzung beleuchtet Umstände und Altersstrukturen von zwangsverheiraten Männern, Frauen und Kindern auf globaler Ebene. Um nur einige der Erkenntnisse vorzustellen:

22 Millionen Menschen lebten 2021 in Zwangsehen, darunter mehr als zwei Drittel Mädchen und Frauen (14,9 Mio.). Von den rund 15 Mio. zwangsverheirateten Frauen wurde knapp mehr als Hälfte vor Erreichen der Volljährigkeit verheiratet (52% - s. Abb. a).

9 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre wurden zu einer Ehe gezwungen oder ohne eigene Zustimmung verheiratet. Davon waren 41% sogar jünger als 16 Jahre. Vor allem Mädchen (87%) werden minderjährig verheiratet (Abb. b).

So bestürzend diese Zahlen auch sind: Die Missstände sind weder neu, noch bilden sie das komplette Ausmaß an Früh- oder Zwangsverheiratungen ab. Die HerausgeberInnen weisen selbst darauf hin, dass diese Zahlen als „zurückhaltend“ zu bewerten und auch auf unterschiedliche Definitionen von „Zwangsverheiratung“ zurückzuführen sind. In der vorliegenden Schätzung sind demnach nicht alle Frühehen erfasst.*

Abb. b) Quelle: Ebd., S. 67.Hervorzuheben ist jedoch: Diese Form der Gewalt geht nahezu ausschließlich von der eigenen Familie aus. 89% der Betroffenen wurden von der eigenen Familie zur Ehe gezwungen, davon 73% direkt von den eigenen Eltern. Schaut man sich nur betroffene Mädchen und Frauen an, wurden diese fast ausnahmslos von der eigenen Familie zum Heiraten gezwungen (95%, Abb. c).

Laut der Publikation wurden Betroffene emotional erpresst oder bedroht, aber auch durch körperliche oder sexualisierte Gewalt zur Ehe gezwungen. 11% der Mädchen und Frauen berichteten, dass sie gekidnapped oder gezwungen wurden ins Ausland zu reisen, um dort zu heiraten.

Patriarchale Strukturen, Armut, Traditionen, aber vor allem soziokulturelle Vorstellungen, in denen Frauen „weniger Wert“ als Männer sind, halten diese Praktiken am Leben.

Auswege

Abb. c) Quelle: Ebd., S. 70.Diesen Missständen kann man nur ganzheitlich begegnen. Eine generelle Festlegung eines weltweiten Mindestheiratsalters auf 18 Jahre wäre ein erstes wichtiges Signal. Doch ist dies nicht allein erfolgversprechend, wenn gleichzeitig nicht auch umfassende Präventions- und Sensibilisierungskampagnen für ein Umdenken sorgen, Schutzeinrichtungen für Bedrohte oder Betroffene geschaffen und nicht zuletzt ökonomische Möglichkeiten für Frauen verbessert werden. Im Fokus der Maßnahmen sollten dabei immer die Bedürfnisse und der Schutz der Betroffenen stehen. Dazu gehöre auch ihnen Alternativen zu einer möglichen Strafverfolgung aufzuzeigen. Denn die Hürde, die eigene Familie anzuzeigen, sei hoch und könnte viele davon abhalten sich Hilfe zu suchen.

Die vorgenommene Zuordnung der Zwangsverheiratung als eine von zwei Säulen „moderner Sklaverei“ – neben Zwangsarbeit – unterstreicht eindrucksvoll, was eine Zwangsverheiratung für die Betroffenen bedeuten kann: ein Leben lang in Unfreiheit, Fremdbestimmung, Unterdrückung – bis hin zu häuslicher und sexualisierter Gewalt.

 

 

 

* Die HerausgeberInnen verweisen in dem Zusammenhang auf Hochrechnungen von UNICEF, nach denen allein 650 Mio. Mädchen und Frauen vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet wurden – mit jährlich ca. 12 Mio. weiteren.

Bezogen auf Zwangsverheiratungen und Zwangsehen verwenden die HerausgeberInnen folgende Definition: „The global estimates of forced marriage are based on those who reported having been forced to marry in the last five years, without their consent, and those who were forced to marry before that time but remain in the marriage.” (S. 112).

Die Prozentangaben im Text sind gerundet.

Quelle: International Labour Organization (ILO) / Walk Free / International Organization for Migration (IOM) (Hg.): Global Estimates of Modern Slavery: Forced Labour and Forced Marriage, Genua 2022.

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