• 16.02.2023

Urteil im Fall Maryam H. – lebenslange Haft für beide Brüder

Das Gericht hat beide angeklagten Brüder für schuldig befunden und am 16.02.2023 zu jeweils lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt.* Damit ist die Kammer den Forderungen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage gefolgt. TERRE DES FEMMES wertet diesen Urteilsspruch als starkes Zeichen gegen Gewalt an Frauen und speziell gegen Gewalt im Namen der Ehre.  

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Maryams Wunsch nach einem freieren, selbstbestimmteren Leben ihr Todesurteil bedeutete. Im Laufe der 1,5-stündigen Urteilsverkündung ging Richter Groß ausführlich auf die archaisch-patriarchalen Strukturen und das Konzept der Familienehre ein: Er erläuterte, wie sich Frauen innerhalb dieser Strukturen dem Mann unterzuordnen haben, sich in jeglicher Hinsicht „keusch“ und „rein“ zu verhalten und sich vor allem auch jeglichen familiären, von Männern erlassenen, Regeln zu unterwerfen haben. Denn sie gelten als die Trägerinnen der Familienehre und müssen demnach ihr gesamtes Handeln nach diesen Denkvorstellungen ausrichten. ZeugInnen im Laufe des Prozesses bestätigten die enge Verhaftung der Brüder an Ehrvorstellungen, die jedoch nicht religiös begründet sind, sondern in archaisch-patriarchalen Strukturen wurzeln. Diese beinhalten, dass eine (vermeintliche) Ehrverletzung sanktioniert werden müsse - im Extremfall mit der Tötung der für den Ehrverlust verantwortlichen Person.

Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass die angeklagten Brüder genau dieses Ehrkonzept stark verinnerlicht hatten und hierin die Motive für den Mord zu finden sind. Der Richter zeichnete nach, wie Maryam sukzessive die „Grenzen des Erlaubten“ versuchte auszudehnen, um sich aus den „familiär auferlegten Fesseln“ zu befreien: Sie ließ sich scheiden - zunächst nach deutschem Gesetz, später auch religiös durch einen Imam, dennoch wurde beides von der Familie nicht akzeptiert -, sie legte teilweise das Kopftuch ab, feierte in einer Bar, verliebte sich neu. Die Brüder begannen sie engmaschig zu kontrollieren, zu überwachen, auch ihren Sohn zu instrumentalisieren. Doch Maryams Wunsch, ein sichtbares Leben an der Seite ihres selbst gewählten neuen Partners zu führen, war stärker. In den Augen der Täter drohte die „Schande“, also der vermeintliche Ehrverlust, damit öffentlich zu werden. Für die Brüder sei der Macht- und Kontrollverlust über die Schwester demnach zu groß geworden. Maryam bezahlte ihren „Wunsch nach Freiheit, Glück, Zufriedenheit“ mit dem Leben, so die Überzeugung der Kammer.

Das Gericht verwies ebenfalls auf die Doppelmoral, die diesen patriarchalen Ehrvorstellungen innewohnt: Während die Brüder der Schwester enge Verhaltensregeln auferlegten, galten diese für sie nicht gleichermaßen.

Für das Gericht ist zweifellos bewiesen, dass es sich hierbei um einen mittäterschaftlichen Mord aus niedrigen Beweggründen handelt. Die Brüder hätten sich zu Vollstreckern bestimmt, über Leben und Tod ihrer Schwester zu entscheiden. Dies sei „zutiefst verabscheuungswürdig“, so Richter Groß. 

Aus Sicht von TERRE DES FEMMES steht fest: Der Mord an Maryam H. geschah im Namen der Ehre. Weder „Ehren“-Mord noch „Femizid“ sind juristische Begriffe, dennoch ist es aus Sicht von TERRE DES FEMMES unerlässlich, (mutmaßliche) Ehrverbrechen beim Namen zu nennen: Maryam wurde von ihren Brüdern umgebracht, da sie durch ihre Handlungen in den Augen der Brüder die Ehre der Familie verletzte. Ihr Wunsch nach einem freieren Leben für sich und ihre Kinder war nicht vereinbar mit den archaisch-patriarchalisch geprägten Strukturen der Familie und führte sie in den Tod. Nur durch das Aufzeigen dieser patriarchalischen Denkweise und möglichen Ehrvorstellungen ist Prävention und Veränderung möglich! 

Das Urteil bringt Maryam H. nicht zurück und ihre beiden Kinder werden trotzdem ohne sie aufwachsen müssen. Dennoch zeigt das Urteil eindeutig: Verbrechen, die darauf gerichtet sind, Mädchen und Frauen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verwehren, bleiben in Deutschland nicht ungestraft. Patriarchale Strukturen, die Mädchen und Frauen einen geringeren Stellenwert als Männer zuweisen, haben keinen Platz in unserer Gesellschaft. Jede Frau hat das Recht, frei, selbstbestimmt und gleichberechtigt zu leben.

Oder, wie es Richter Groß am Ende der Urteilsverkündung deutlich formulierte: „Menschenrechte stehen über Ehrvorstellungen“.

* Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Eine Woche nach Urteilsverkündung berichteten Medien davon, dass die Verteidigung beider Brüder in Revision gehen wolle.

Stand: 02/2023

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