• 17.05.2022

Hatun, Morsal, Maryam, Zohra... ob vor 17 Jahren oder vor zwei Monaten: Diese Mädchen und Frauen wurden ermordet, weil sie die vermeintliche Familienehre verletzt haben sollen.

Anlässlich der Ermordung von Morsal Obeidi vor 14 Jahren: Überblick über aktuell laufende mutmaßliche „Ehren“-Mordprozesse und laufende Ermittlungen

Im 15.05.2008 wurde Morsal Obeidi im Alter von nur 16 Jahren von ihrem Bruder ermordet. Zuvor kam es immer wieder zu innerfamiliären gewaltsamen Konfrontationen, da Morsal sich dem ihr aufgezwungenen Lebensstil ihrer Familie nicht beugen wollte. Sie wollte frei und selbstbestimmt leben – aber nicht ohne ihre Familie. Diese zwei so vermeintlich harmlos klingenden Wünsche ließen sich in ihrer Welt nicht miteinander vereinbaren. Sie bezahlte dafür mit ihrem Leben.

Doch auch so viele Jahre später geschehen immer noch Ehrverbrechen mitten unter uns, oft tödlich. Anlässlich des Gedenkens an Morsal Obeidi hat TERRE DES FEMMES aktuell laufende Gerichtsprozesse mit einem mutmaßlichen Ehrkontext zusammengefasst.

Delmenhorst

Im Oktober 2021 hatte der Angeklagte zunächst den vermeintlichen „Liebhaber“ seiner Frau in einer Bar mit 30 Messerstichen getötet und danach die eigene Frau. Die gemeinsame Tochter musste mit ansehen, wie der eigene Vater 21 Mal auf die Mutter einstach. Die Frau erlitt später ihren Verletzungen, der zuvor angegriffene vermeintliche „Nebenbuhler“ starb bereits am Tatort. Der Täter vermutete eine Liebesbeziehung zwischen den beiden, wofür sich im Laufe der Ermittlungen aber keine Beweise finden ließen. Bereits im Februar nahm TERRE DES FEMMES diesen Doppelmord mit in die alljährliche Übersicht mutmaßlicher „Ehren“-Morde in Deutschland auf. Kurz nach der Tat hatte der Mann zudem offenbar ein Video im Internet veröffentlicht, in dem er mit seinen Taten prahlte.

Die Staatsanwaltschaft setzte diese Tat auf die sittlich niedrigste Stufe und nannte die Wiederherstellung der vermeintlich beschmutzten Familienehre als Tatmotiv. Der Angeklagte gestand im Laufe des Prozesses beide Taten und gab an, aus Eifersucht gehandelt zu haben.

Im Laufe des Prozesses sorgte ein psychiatrisches Vorab-Gutachten für Aufsehen. Gemäß diesem könnte der Angeklagte zum Tatzeitpunkt nur vermindert schuldfähig gewesen sein, da er im „Wahn“ gehandelt habe.

Am 13.05.2022 wurde das Urteil gefällt: Das Gericht folgte vollumfänglich dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verhängte aufgrund zweifachen Mordes lebenslange Haft für den Mann. Es stellte weiterhin die besondere Schwere der Schuld fest, womit eine vorzeitige Haftentlassung erschwert wird.

Kurz nach der Urteilsverkündung verkündeten Presseberichte, dass die Verteidigung in Revision gehen werde.

Zudem seien sechs weitere Männer angeklagt, die laut Staatsanwaltschaft in die Planung der Tat eingebunden gewesen seien und denen demzufolge Beihilfe zum Mord vorgeworfen wird. Wann das Verfahren gegen diese Männer beginnt, ist derzeit noch unklar.

Dieser schockierende Fall zeigt, wie allein ein Gerücht oder eine unbelegte Vermutung lebensbedrohliche Folgen für die Frauen (und deren vermeintliche neuen Partner) entfalten kann. Im Laufe des Prozesses wurden Details deutlich, die auf einen möglichen Ehrbezug hindeuten:

  • An die Frauen werden strenge Verhaltensnormen gelegt, die eng mit einer rigiden (und nur innerhalb der Ehe stattfindenden) Sexualmoral verknüpft sind.

  • Weicht die Frau von diesen Rollenbildern ab, und sei es nur gerüchteweise, kann dies ihr Leben gefährden.

  • TäterInnen, die die Familienehre wiederherstellen wollen, verfügen zumeist über einen Rückhalt in der Familie oder der Community. Im Fall des Delmenhorster Doppelmordes sind 6 weitere Männer der Beihilfe angeklagt, die sich teilweise im engen Verwandtschaftsverhältnis mit dem Täter befinden.

  • Sog. Ehrenmorde finden oft im öffentlichen Raum statt.

Berlin

Zu dem ebenfalls derzeit laufenden Gerichtsprozess um die Ermordung von Maryam H. vergangenen Sommer in Berlin hat TERRE DES FEMMES bereits berichtet. An verschiedenen Verhandlungstagen wurde dabei von Zeuginnen und Zeugen geschildert, wie stark Maryam H. im Vorfeld von ihren Brüdern überwacht wurde. Auch von körperlicher Gewalt war vermehrt die Rede - ausgeübt sowohl durch die Brüder, als auch durch ihren Ex-Ehemann. Die Urteilsverkündung ist für August 2022 avisiert.

Dresden

Bereits 2017 sollen zwei Brüder ihre jüngere Schwester Sozan A. ermordet haben, da sie sich von ihrem gewalttätigen Ehemann, mit dem sie zwangsverheiratet worden war, scheiden ließ und anschließend eine neue Ehe einging. Ihre Familie im Herkunftsland hätte sich laut Medienberichten durch diese Schritte in ihrer Ehre verletzt gefühlt. Die angeklagten Brüder nahmen zuvor noch an der Hochzeit der Schwester teil, sollen sie jedoch drei Tage später in ihrer Dresdner Wohnung getötet haben. Laut Medienberichten habe die Getötete im Vorfeld bereits in Angst vor ihren Brüdern gelebt. Die Angeklagten flüchteten nach der Tat ins europäische Ausland.

Vor dem Dresdner Landgericht steht derzeit nur der ältere Bruder, der jüngere befindet sich noch in Italien.

Köln-Nippes (Ermittlungen laufen noch)

Ostern 2022 starb eine 36jährige Frau durch mehrere Messerstiche, laut Medienberichten zugefügt von ihrem ehemaligen Partner. Der Mann habe die Trennung und ihre Entscheidung für einen anderen Mann offenbar nicht akzeptiert. Der Oberstaatsanwalt lässt eine verletzte Ehre als Tatmotiv möglich erscheinen.

Berlin-Pankow (Ermittlungen laufen noch)

Ende April 2022 wurde die sechsfache Mutter Zohra G. ebenfalls auf offener Straße durch mehrere Messerstiche tödlich verletzt, als Täter gilt ihr Ex-Mann. Die polizeilichen Ermittlungen laufen, doch kann eine vermeintlich beschmutzte Familienehre auch hier nicht ausgeschlossen werden.

Forderungen von TERRE DES FEMMES:

  • Dauerhafte Finanzierung von spezialisierten Beratungsstellen/Schutzeinrichtungen und Schaffung weiterer Einrichtungen

  • Personelle Aufstockung der MitarbeiterInnen in Schule und Jugendamt

  • Schulungen aller Berufsgruppen, die mit potentiell Betroffenen arbeiten

  • Verbesserung der Schutzmaßnahmen für Betroffene von Zwangsverheiratung und Gewalt im Namen (z. B. Hilfen bei der Anonymisierung und Namensänderung)

  • Bundesweite Studie zum Ausmaß von Zwangsverheiratungen und Frühehen

  • Bundesweite Präventionsarbeit an Schulen

Mädchen und Frauen sollen selbstbestimmt, gleichberechtigt und frei leben können. Dafür kämpft TERRE DES FEMMES seit über 40 Jahren. Damit wir dies weiterhin tun können, bitten wir Sie herzlich, uns zu untersützen.

Mehr lesen:

Zu unserem langjährigen Engagement gegen Gewalt im Namen der vermeintlichen Familienehre lesen Sie mehr in unserer Rubrik "Zurückgeblättert" im Artikel "Für das Recht aufzubegehren - und tradierte Rollenbilder zu durchbrechen" 

Stand: 05/2022, letzte Änderung: 17.05.2022 Aktualisierung: Urteil im Doppelmordprozess von Delmenhorst

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