• 30.11.2023

„Ich erreiche die Schülerinnen nicht mehr“

Öffentliche Bildungseinrichtungen sollen allen Kindern, unabhängig ihres Elternhauses, ein freies, selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Aufwachsen ermöglichen. Als staatliche Orte müssen sie alle religiöse und weltanschauliche Symbolik vermeiden. Nur so kann der Staat seinen Bildungsauftrag erfüllen und Heranwachsenden die Wichtigkeit von Gleichberechtigung vermitteln sowie demokratisches Denken fördern. Hierzu zählen unter anderem das Recht auf (sexuelle) Selbstbestimmung, Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie das Recht religiös zu sein oder nicht. Daher fordern wir von TERRE DES FEMMES eine bundesweite Regelung zum sogenannten Kinderkopftuch in allen öffentlichen Bildungseinrichtungen. Regelmäßig erreichen uns Nachfragen von Lehrkräften und SchulsozialarbeiterInnen zum Thema „Kinderkopftuch“. Sie erleben im Schulalltag wie das „Kinderkopftuch“ die Verhaltensweise der Kinder negativ beeinflusst. Anfang November 2023 führte TERRE DES FEMMES mit einer Lehrerin ein Interview, welches wir hier anonymisiert wieder geben.

Mitte November 2023 hat die Alternative für Deutschland (AfD) im Bundestag einen Antrag auf ein „Kinderkopftuch-Verbot“ gestellt. Wir möchten klarstellen, dass wir zu keinem Zeitpunkt den Antrag der AfD unterstützt haben und auch in Zukunft nicht unterstützen werden. Bereits 2017 hat TERRE DES FEMMES ein Positionspapier zu Rechtspopulismus und Extremismus verabschiedet. Auf Grund unseres feministischen Leitbildes lehnen wir alle reaktionäre Werte- und Rollenverständnisse für Mädchen und Frauen ab. Unabhängig davon, ob sie religiös, kulturell, als Tradition oder als natürliche Bestimmung definiert werden. Wir lehnen sexistische, rassistische, rechtsextreme und -populistische, islamistische und andere religiöse fundamentalistische Ideologien ab, die zur Begründung für Gewalt gegen Frauen und als Instrument ihrer Unterdrückung herangezogen werden. Haltungen und Aktivitäten von antifeministischen und (rechts-)extremistischen Parteien und Bewegungen, die systematisch Menschen diskriminieren, soziale Gruppen gegeneinander aufhetzen, Schutzsuchende polemisieren und sie angreifen, rassistische Ressentiments schüren, widersprechen unserem humanistischen und feministischen Verständnis grundlegend.

 

TERRE DES FEMMES ist politisch unabhängig, strikt säkular und bezieht entschieden Position für die Rechte von Mädchen und Frauen. Wir sehen in einem Dialog mit der AfD und anderen antifeministischen und/oder extremistischen Organisationen weiterhin keine Basis.

Interview vom 02.11.2023:

TDF: Herzlichen Dank für Ihre Zeit mit uns über dieses wichtige Thema zu sprechen.  Sie haben sich bei TDF zum Stand der Petition „DEN KOPF FREI HABEN“ erkundigt, da Sie als Lehrerin die negativen Auswirkungen des sogenannten Kinderkopftuches sehen. Können Sie sich uns bitte kurz vorstellen.

Lehrerin: Ich arbeite seit über 30 Jahren als Lehrerin, zuerst in Nordrhein-Westfalen und jetzt in Niedersachsen. Zuvor habe ich 12, 13 Jahre an einer Hauptschule unterrichtet und danach an einer Realschule. Seit zwei Jahren ist die Schule eine Oberschule, das bedeutet, die 5., 6. und 7. Klassen sind jetzt auch in der Oberschule.

TDF: Welche Erfahrungen und Beobachtungen haben Sie gemacht, wenn Schulkinder das sogenannte „Kinderkopftuch“ tragen. Mögen Sie uns davon berichten?

Lehrerin: Mädchen mit „Kinderkopftuch“ dürfen teilweise nicht auf mehrtägige Klassenfahrten mitfahren. Tagesfahrten sind oft kein Problem. Dann habe ich, da ich Sportlehrerin bin, auch Schwierigkeiten beim Schwimmen. Von einschlägigen ÄrztInnen werden fadenscheinige Atteste ausgefüllt und die Mädchen nehmen nicht am Schwimmunterricht teil. Wenn die Mädchen mitschwimmen dürfen, dann ausschließlich in einem sogenannten Burkini. Meiner Erfahrung nach, beeinträchtigen Burkinis das Erlernen vom Schwimmen und das Schwimmen selbst, wenn sie nicht enganliegend sind und sich im Wasser noch länger ziehen. Sodass die Kinder eigentlich ungleich viel zu leisten haben als die anderen Kinder. Und in der Regel ist es auch so, dass diese Kinder gar nicht schwimmen können oder schlecht schwimmen können, sodass es eigentlich unmöglich ist schwimmen zu lernen. Dann kommt noch hinzu, dass die Mädchen, die ein „Kinderkopftuch“ tragen, auch Kopfbedeckung beim Schwimmen haben. Wenn bei einem Kopfsprung das „Kinderkopftuch“ verrutscht, dann gibt es schonmal Tränen. Ja, für die 5. oder 6. Klasse finde ich das ganz schön schlimm. Die jüngeren Kinder probieren den Kopfsprung noch aus, die Älteren nehmen machen das gar nicht.

TDF: Hier möchte ich gerne vertiefend nachfragen. Das bedeutet also, dass selbst in dem geschützten Rahmen des Schwimmunterrichtes in der Klasse, wenn das Kopftuch verrutscht Kinder in Tränen ausbrechen. Wissen Sie, ob dies auf ein Schamgefühl der Kinder zurückzuführen ist oder haben sie Angst, weil ihre Haare zu sehen waren? Wir wissen aus Erfahrungsberichten, dass einigen Kindern früh beigebracht wird, sie würden in die Hölle kommen, wenn sie ihre Haare in der Öffentlichkeit zeigen.

Lehrin: Ich weiß nicht, was das ist. Ich kann mir sowas vorstellen, ja. Es gibt auch beim Umziehen in der Umkleide Schwierigkeiten. Mädchen muslimischen Glaubens, die anfangen zu weinen, weil sie sich nicht vor anderen umziehen möchten. Wenn ich nachfrage, bekomme ich Antworten wie „wir sind doch Muslims und wir dürfen uns vor anderen Menschen nicht umziehen“. Eine Grundschullehrerin, die selbst Muslimin ist, bitte ich in diesen Fällen um Hilfe. Mittlerweile sind wir auch befreundet. Ich selbst komme an diese Schülerinnen gar nicht mehr ran. Die Grundschullehrerin spricht mit den betroffenen Kindern und zeigt ihnen Alternativen, wie sie das lösen können, beispielsweise sich umdrehen oder eine Mitschülerin bitten ein Handtuch vorzuhalten. Sie unterstützt die Mädchen, die meines Erachtens offensichtlich in einer Zwickmühle stecken. Einerseits möchten sie schwimmen, andererseits sind irgendwelche Grenzen gesetzt, die sie im Kopf hat oder von ihren Eltern kommen.

TDF: Entschuldigen Sie bitte, wenn ich hier eine Verständnisfrage stellen möchte. Die Umkleiden sind doch nach Geschlechtern getrennt. Verstehe ich es richtig, Mädchen empfinden bereits in einem frühen Alten Scham, sich vor anderen Mädchen umzuziehen?

Lehrerin: Nicht alle, aber mittlerweile schämen sich viele sich sogar untereinander zu zeigen. Vermutlich, weil sie sich nicht anderen Personen unbekleidet zeigen dürfen.

TDF: Haben Sie das Gefühl, dass eine komplette Tabuisierung des Körpers stattfindet?

Lehrerin: Ja. Ich gebe auch Sportunterricht. Ein Mädchen in der 7. Klasse, hat auf einmal ein, ich weiß gar nicht wie ich das nennen soll, ein Ganzkörperkleid angehabt und kein Schulsport mehr mitgemacht. Gerade mit dieser Kleidung tabuisiert man eben den Körper. Aktuell habe ich ein Mädchen in meiner Klasse, die vergangenes Jahr ohne „Kinderkopftuch“ eingeschult wurde. Nach den Herbstferien trug sie dann eines. Aus Gesprächen habe ich herausgehört, dass es eine Art Initiationsfest gab, weil sie das erste Mal ihre Tage bekommen hat und damit jetzt auch das „Kinderkopftuch“ trägt. Seitdem geht nicht mehr viel. Das Mädchen ist wie abgeschnitten. Sie war vorher fröhlich, sie war auch am Unterricht beteiligt und hat da immer mitgemacht. Seitdem sie aber das „Kinderkopftuch“ trägt, geht nichts mehr. Sie ist auch permanent krank, ständig. Keine Ahnung, ich weiß nicht, was mit dem Mädchen ist. Ich find’s schade.

TDF: Vor einigen Wochen ist eine Lehrerein auf uns zugekommen, die von der gleichen Verhaltensänderung berichtete. Ein Kind in ihrer Klasse war früher lebhaft, hat am Unterricht teilgenommen, ist mit ihren KlassenkameradInnen über den Schulhof gerannt. Mit dem Anlegen des Kinderkopftuches hat auch eine Verhaltensänderung stattgefunden. Sehen Sie auch diese Änderung bei ihrer Schülerin?

Lehrerin: Ja, wie gesagt sie ist ruhiger geworden, sie ist auch immer wieder krank. Arbeitet dann aber auch nicht nach. Sie war vorher, in meinen Augen, eine fleißige Schülerin. Jetzt wirkt sie wie unbeteiligt und zugleich wirkt sie auch, wie soll ich es beschreiben, wie „erleuchtet“. Allerdings beteiligt sie sich nicht mehr viel.

TDF: Haben Sie den Eindruck, dass Kinder teilweise gezwungen werden das „Kinderkopftuch“ zu tragen?

Lehrerin: Das kann ich so nicht beurteilen. Was allerdings auffällig ist, dass man auf Nachfrage, warum Kinder das „Kinderkopftuch“ tragen, sofort als erste Antwort bekommt: Das trage ich freiwillig. Das ist schon relativ merkwürdig, dass es so wie aus der Pistole geschossen kommt, denn danach habe ich ja gar nicht gefragt.

TDF: In vielen deutschen Städten gibt es Koranschule und Bildungsangebote religiöser Vereine. Haben Sie beobachtet, ob Kinder, die ein „Kinderkopftuch“ tragen, diese zusätzlichen Angebote von Koranschulen oder Religionsvereinen besuchen?

Lehrerin: Also ich denke das tun alle Mädchen muslimischen Glaubens, auch die Jungs. Problematisch finde ich, dass die Imame ja gar nicht in unserer Kultur aufgewachsen sind und unserer Kultur auch nicht wirklich kennen. Sondern sie werden ja mehr oder weniger eingeflogen aus Saudi-Arabien oder anderen Ländern. Dann sind sie 3-4 Jahre hier, unterrichten und sind dann wieder weg und dann kommt wieder Neuer. Mein Mann ist auch Lehrer und daher weiß es das, da er die Kinder der Imame in der Klasse hat.

TDF: Haben Sie das Gefühl, wenn die Mädchen Brüder oder Cousins an der gleichen Schule haben, dass diese darauf achten, wie die Mädchen „sich zu verhalten haben“?

Lehrerin: Es gibt einige Jungen ja. Die sagen ihren Schwestern, wo es lang geht und was sie sich erlauben können und was nicht. Aber ich habe auch schon negative Sachen bei Mädchen erlebt, dass die Mädchen, die Kopftuch tragen, versuchen Druck auf die Mädchen aufzubauen, die kein Kopftuch tragen. Von wegen „ihr seid ja gar keine richtigen MuslimInnen und wir sind die richtigen und wir sind die echten.“ Ja und da bin auch schon ziemlich sauer geworden drüber.

TDF: Sie unterrichten auch Sexualkunde. Haben Sie schon Eltern erlebt, die ihren Kindern nicht erlauben am Sexualkundeunterricht teilzunehmen.

Lehrerin: Ja, habe ich auch schon erlebt. Ist aber bereits vor einiger Zeit gewesen.

TDF: Wir haben bereits darüber gesprochen, dass es bei Kindern, die das „Kinderkopftuch“ zu negativen Verhaltensänderungen kommt. Wie beispielsweise ein inneres Zurückziehen, häufiges Kranksein. Nicht-Teilnahme am Sportunterricht und Klassenfahrten. Haben Sie das Gefühl, dass Sie auch mit der Schulleitung und KollegInnen offen reden können oder wird es eher tabuisiert?

Lehrerin: Grundsätzlich kann ich mit den KollegInnen offen reden. Zudem führen wir mit allen Eltern ein Gespräch, ob das Kind bei uns an der Schule aufgenommen wird. Daraufhin unterschreiben die Eltern einen Vertrag mit der Schule, dass das Kind am Schwimmunterricht und auch an Klassenfahrten teilnimmt. Um dagegen zu handeln, bringen Eltern daraufhin dieses Attest und wir können dagegen auch nichts machen. Und auf der anderen Seite werden die Eltern natürlich an ihre Unterschrift erinnert.

TDF: Haben Sie in diesen Fällen auch Unterstützung von SchulsozialarbeiterInnen?

Lehrerin: Ja, auf jeden Fall. Wir haben auch mittlerweile einen muslimischen Lehrer, der die muslimischen SchülerInnen in Religion unterrichtet und wenn was aufkommen soll, kann man sich an ihn wenden und dann wird es zumindest für eine kurze Zeit geklärt.

TDF: Abschließend möchte ich Sie fragen, ob Sie in einem Verbot des „Kinderkopftuchs“ in den öffentlichen Bildungseinrichtungen einen Vorteil für die gleichberechtigte und freie Entwicklung von Mädchen sehen?

Lehrerin: Ja sicher. Ich denke, dass die Kinder je jünger sie sind, einfach freier aufwachsen können. Jetzt im Sportunterricht zum Beispiel, müssen sie ein spezifisches „Kinderkopftuch“ tragen. Normalerweise verwenden sie zur Fixierung Stecknadeln, die dürfen sie im Sportunterricht nicht anziehen. Die Kinder benötigen ein extra Sport-Kopftuch, was elastisch ist. Ich weiß bei einigen nicht ob die Eltern das nicht besorgen können oder es nicht wollen. Trotzdem erlaube ich den Kindern am Sportunterricht teilzunehmen. Eigentlich sollte ich es verbieten, weil es gefährlich ist. Aber ich bin froh, dass sie Sport machen.

TDF: Haben Sie herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, um dieses wichtige Thema aus der Perspektive der Schulpraxis näher kennenlernen zu dürfen.

Weiterführende Informationen zu unserer Arbeit:

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