Wissen macht selbstbestimmt! Warum wir über das „Jungfernhäutchen“ reden müssen
Tut das erste Mal weh? Werde ich bluten? Was passiert, wenn ich nicht blute? Kann mich ein Tampon entjungfern? Ist bei mir alles normal?
Solche oder ähnliche Fragen stellen sich bis heute viele Mädchen und junge Frauen – und das schon seit Jahrhunderten. Der Grund dafür ist der Mythos vom sogenannten „Jungfernhäutchen“ – die historisch verankerte und weit verbreitete Vorstellung, dass eine dünne Hautschicht den Eingang zur Vagina verschließt und beim ersten penetrativen Sex aufreißt. Doch medizinisch betrachtet gibt es das „Jungfernhäutchen“ gar nicht.
Was es tatsächlich gibt, ist das Hymen. Das Hymen ist eine weiche und dehnbare Schleimhautfalte, eine Art Hautkranz am Eingang zur Vagina. Es ist individuell unterschiedlich ausgeprägt und kommt so in verschiedenen Formen vor. Manche Frauen haben gar kein Hymen. Das Hymen verschließt den Vaginaleingang nicht und kann auch nicht automatisch „durchreißen“ – weder beim ersten penetrativen Sex noch bei anderen Aktivitäten wie Sport, Fahrradfahren oder dem Einführen eines Tampons oder anderer Menstruationsprodukte. Es lässt es auch keinen Rückschluss auf die „Jungfräulichkeit“ einer Person zu.
Trotz dieser klaren medizinischen Fakten hält sich der Mythos vom „Jungfernhäutchen“ hartnäckig. Denn dieser beruht weniger auf anatomischem Wissen, sondern viel mehr auf tief verwurzelten patriarchalen Normen und gesellschaftlich konstruierten Erwartungen an weibliche Sexualität. Genau hier setzt unser neues von Aktion Mensch gefördertes Projekt „Selbstbestimmt & Stark: Aufklärung über den Mythos Jungfernhäutchen“ an: TDF möchte Jugendliche, Eltern und Fachkräfte in der Jugend- und Elternarbeit für die Folgen des Mythos sensibilisieren, sie nachhaltig stärken und medizinisches Wissen zum Hymen vermitteln.
Jungfräulichkeit als Ideal
Der Mythos vom Jungfernhäutchen wird bis heute dazu genutzt, um junge Frauen in ihrer Lebensgestaltung zu begrenzen und ihnen ihre sexuelle Selbstbestimmung zu verweigern. Gesellschaftlich betrachtet gilt Jungfräulichkeit seit Jahrhunderten als Symbol für Reinheit, Unschuld und Ehre. Diese Vorstellung hat tiefgehende kulturelle Wurzeln, zum Beispiel in der Darstellung der Jungfrau Maria, die als Inbegriff von Unschuld und Reinheit verehrt wird. Aber auch das mediale Image der Pop-Ikone Britney Spears wurde in den frühen 2000er Jahren stark von der Idee der „unschuldigen Jungfrau“ geprägt – bis die Medien ihre Privatsphäre ausbeuteten und ihre Ehre und Reinheit infrage stellten. Dabei finden sich über Kulturen und Religionen hinweg Ideen der jungfräulichen Unschuld und Reinheit wieder. Umso wichtiger ist es, dass wir anfangen, offen über diese Themen zu sprechen – denn patriarchale Vorstellungen betreffen nicht nur Mädchen und Frauen, sondern uns alle.
Jungfräulichkeit als Eigenschaft
Dieser vermeintliche Idealzustand – als junge Frau unberührt und makellos zu sein – wird am Körper selbst, über das vermeintliche „Jungfernhäutchen“ festgemacht. Ein scheinbar “intaktes” “Jungfernhäutchen” gilt dabei als Beweis, dass das Mädchen oder die Frau noch keinen Geschlechtsverkehr hatte (wobei Geschlechtsverkehr mit penetrativem Sex gleichgesetzt wird). So ist es in manchen Familien weiterhin selbstverständlich, dass Töchter bis zur Ehe keinen Sex haben – nur dann gelten sie als ehrbar und ihrem zukünftigen Ehemann würdig.
In besonders streng patriarchal denkenden Familien wird die Ehre der Familie mit der Jungfräulichkeit der Töchter gleichgesetzt. Ist das „Jungfernhäutchen“ einmal „aufgerissen“, gilt die Jungfräulichkeit als „verloren“ oder „genommen“ – und mit ihr ein Teil der sozialen „Ehre“. Fehlt Familien oder dem Partner der vermeintliche Beweis der Unschuld in der Hochzeitsnacht – Blut des gerissenen “Jungfernhäutchens” auf dem Bettlaken – wird häufig der falsche Bezug zur bereits “verlorenen” Jungfräulichkeit hergestellt.
In der Folge stehen viele junge Frauen unter enormem Druck. Um diesen gerecht zu werden, greifen manche Frauen in Deutschland auf operative Hymenrekonstruktionen oder künstliche Hymen zurück. Der Druck, diesen Normen zu entsprechen, führt dazu, dass viele Frauen ihre körperliche Selbstbestimmung in Frage stellen und in einem ständigen Konflikt zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen ihrer Familie oder der Gesellschaft stehen. Auch Jungen und junge Männer erleben diesen Druck, zum einen auf ihre Partnerinnen und zum anderen als Erwartung der Familie an sie selbst, den Beweis in der Hochzeitsnacht zu liefern.
Aufklärung, die verschiedene Zielgruppen mitdenkt
Wissen ist eines der stärksten Werkzeuge, um Selbstbestimmung zu fördern. Wer versteht, wie der eigene Körper funktioniert, kann Grenzen setzen, selbstbestimmt Entscheidungen treffen und Scham ablegen. Das neue Aufklärungsprojekt von TDF setzt genau hier an: mit Materialien, die Mythen entkräften, mit Sprache, die nicht beschämt, und mit Wissen, das stärkt – für Jugendliche, Eltern und Fachkräfte in der Jugend- und Elternarbeit. Denn Sexualbildung ist nicht nur ein Thema der Schule. Sie ist ein gemeinsames Projekt von Familien, Fachkräften und Gesellschaft. Und sie gelingt nur, wenn wir alle beginnen, anders über Körper, Intimität und Selbstbestimmung zu sprechen