„Mir wurde früh beigebracht, dass Mädchen nicht laut reden oder lachen und so viele Fragen stellen sollen“

Interview mit Arzu am 07.01.25 - Transkription

„Mir wurde früh beigebracht, dass Mädchen nicht laut reden oder lachen und so viele Fragen stellen sollen“

TDF: Vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, um mit uns das Interview zu führen und über deine Erfahrungen zum „Kinderkopftuch“ zu berichten. Kannst du dich bitte kurz vorstellen?

Arzu: Ich heiße Arzu[1] und bin 31 Jahre alt. Ich bin Doktorandin im naturwissenschaftlichen Bereich an einer deutschen Universität. Meine Familie stammt ursprünglich aus Pakistan und hat einen muslimischen Hintergrund. Meine Eltern haben keine höhere Bildung genossen und ich bin die Erste aus der Familie, die studiert hat und jetzt noch den Doktor anschließt. Aufgrund meiner familiären Herkunft bin ich auch mit dem „Kinderkopftuch“ in Berührung gekommen, salopp gesagt. Also das klingt jetzt harmlos, aber natürlich ist es ein bisschen mehr. Deswegen machen wir heute das Interview.

TDF: Das Thema „Kinderkopftuch“ ist dir ein wichtiges Anliegen. Was möchtest du uns erzählen?

Arzu: Das „Kinderkopftuch“ hat circa zehn Jahren mein Leben geprägt, bis ich mich davon losgelöst habe und mich auch von der Religion losgelöst habe, aus einer freiheitlichen, selbstbestimmten Entscheidung heraus. Und mir ist es wichtig darüber zu sprechen und aufzuklären, weil es ganz häufig schöngeredet wird. Es fällt unter den Deckmantel von Erziehungsrecht und "Eltern wüssten besser, was für ihr Kind gut ist". Aber im Kern ist das „Kinderkopftuch“ sehr sexualisierend. Das Kopftuch bei Frauen habe ich teilweise als eine Form der Unterdrückung und der Spaltung der Gesellschaft wahrgenommen. Das „Kinderkopftuch“ beeinflusst früh Mädchen in ihren Rollenvorstellungen und schränkt sie auch langfristig nachhaltig ein. Es beeinflusst gerade auch das kritische Denken und Chancengleichheit – diese beiden Dinge bleiben auf der Strecke, wenn man mit dem Kinderkopftuch aufwächst.

Mir ist es wichtig über das „Kinderkopftuch“ zu reden, weil diese Ungerechtigkeiten jungen Mädchen „erspart" bleiben sollen. Damit sie die Möglichkeit bekommen, wertvolle Erfahrungen zu sammeln und Selbstbestimmung zu leben: Was sie aber leider nicht tun können, wenn sie eben das „Kinderkopftuch“ tragen müssen.

Ich selbst hatte eine Zeit, in der ich es freiwillig und gerne getragen habe. Aber von Anfang an, fand ich es nicht toll. Ich fühlte mich auch nicht so zugehörig zu der Gesellschaft, zu der ich irgendwie doch dazugehören wollte, aber irgendwie nicht gehören kann, weil man ja doch anders ist und aussieht und eine Familie mit anderen Werten und Normvorstellungen hat. Deswegen ist es wichtig darüber zu sprechen und kritisch zu sprechen.

TDF: Darf ich fragen, ab wann du ein „Kinderkopftuch“ getragen hast?

Arzu: Es ging los mit Ende der vierten Klasse, kurz bevor es dann auf die weiterführende Schule ging. Es war auf einmal wichtig, dass ich selbst im Hochsommer einen Anorak trage, weil ich mich einfach verdecken sollte. Es hieß auch, dass auf dem Schulweg auf jeden Fall das „Kinderkopftuch“ getragen werden soll. In der Schule war es im Gegensatz nicht mehr so streng. Meine Mutter war, muss ich noch anmerken, die strengere. Sie hat das kontrolliert oder auch angeleiert oder uns (meine Schwester und mich) so erzogen. Mein Vater hat wenig dazu gesagt, aber er hat das auch nicht schlecht geredet. In der Retrospektive nehme ich ihn ein bisschen als neutralere Person wahr. Aber ich denke schon, dass er es als richtig empfand, dass Mädchen ab einem gewissen Alter ein „Kinderkopftuch“ tragen müssen, da sie ja brav und tüchtig und bescheiden und was nicht alles sein sollen.

TDF: Darf ich da einmal nachfragen? Hast du das Gefühl, dass mit dem „Kinderkopftuch“ auch eine gewisse Erwartungshaltung an die Mädchen verknüpft wird?

Arzu: Mhm, ja, im Sinne, dass sie das selbst auch akzeptieren sollen. Dass sie das hinnehmen sollen. Dass das zu ihrer Gesellschaft gehört, also dass dies ihr Werdegang sein soll. Dadurch, dass sie in diese Familie hineingeboren worden ist, ist der vorgegebene Weg automatisch der richtige für sie. Ein Mädchen soll das befürworten.

Ich muss überlegen, wie ich das ausdrücken soll. Im Endeffekt bedeutet dies hingegen auch, dass ein Mädchen mit „Kinderkopftuch“ sich selbst auch für besser halten soll. Also dieser elitäre Gedanke, man wäre besser, weil man sich eben nicht zeigt und keine kurzen Sachen trägt und so Sachen.

Mit dem „Kinderkopftuch“ geht nicht nur einher, dass man die Haare und Teile des Oberkörpers versteckt, sondern auch, dass man keine kurzen Sachen trägt. Dass man keine Beine zeigen darf, dass man keine kurzärmligen T-Shirts tragen darf oder so Sachen. Also dass man die Haut komplett bedeckt. Und, ich muss gerade dran denken, ich war früher ganz hell im Sommer. Ich bin einfach nicht braun geworden, weil die Sonne nicht direkt an meine Haut kam. Ich war auch sehr häufig blass und das hat meine Klassenlehrerin in der 5. Klasse auch häufig zu mir gesagt, ich sei blass. Für mich war das damals aber nichts Schlechtes, weil ich bin mit dem Ideal aufgewachsen, dass helle Frauen als schöner gelten. Jetzt übrigens finde ich es schön, im Sommer eine leichte Bräunung zu bekommen – ich wirke so mediterran und mag das. Das Blasse sieht so unschön aus ????.

TDF: Aus unserer Arbeit wissen wir, dass mit dem „Kinderkopftuch“ oft Erwartungen an die Mädchen verbunden sind. Sie sollen sich bescheiden verhalten, sie sollen leise und still sein, nicht mehr rumrennen, nicht mehr, auf Bäume klettern. Auch der Umgang mit Jungen wird oftmals von den Familien nicht erwünscht oder eingeschränkt. Wie war das bei dir?

Du hast erwähnt, dass du dich nicht der Mehrheitsgesellschaft zugehörig gefühlt hast. Möchtest du darüber berichten?

Arzu: Tatsächlich wurde uns bereits früh beigebracht, dass Mädchen nicht so laut reden oder lachen sollen, dass sie nicht so viele Fragen stellen sollen, dass sie eher so die gehorsame Funktion innehaben sollen. Generell ein paar Dinge weniger dürfen. Beispielsweise rausgehen, noch lang draußen spielen. Tatsächlich habe ich das aber nicht so extrem in Erinnerung. Wahrscheinlich, weil ich als Kind nicht so tobend, sondern eher ruhig war. Ich habe mich gerne einfach hingesetzt und irgendwelche Bücher durchgeblättert.

Zu der Frage mit der Mehrheitsgesellschaft. Ich hatte automatisch Schwierigkeiten Freunde zu finden, weil man dann doch anders war und sich anders gekleidet hat, anders ausgesehen hat. Ich durfte ja auch keine kurzen Hosen mehr tragen. Aber eine Erinnerung habe ich noch aus der 2. oder 3. Klasse: Es war an einem Sommertag richtig heiß und meine Schwester und ich haben dann auch mal eine kurze Hose getragen, also eine, die oberhalb der Knie ging. Wir haben draußen auf dem Spielplatz Eis gegessen und einfach gespielt. Das hat sich schön angefühlt, weil man so aussah wie die anderen, wie die Mehrheitsgesellschaft eben und es hat sich so ein bisschen, weiß nicht, cool angefühlt. In Kindersprache ausgedrückt. Genau, befreiend oder frei und halt nicht immer diese pakistanischen Kleider und Gewänder. Die auch irgendwo schön sind, aber doch einen halt abgrenzen von der eigentlichen Mehrheitsgesellschaft.

TDF: Du hast im Vorgespräch berichtet teilweise einen Gesichtsschleier getragen zu haben. War dies in der Schule oder außerhalb der Schule?

Arzu: In der Schule gar nicht. Ich kann vielleicht kurz auf meine „Kinderkopftuchhistorie“ eingehen. Ab der 5. Klasse sollte ich immer ein „Kinderkopftuch“ tragen, so die Erwartungshaltung meiner Mutter. Meine Schwester und ich fanden das beide aber gar nicht cool. Wir haben es einfach immer fallen lassen auf dem Schulweg. Also wir haben damals ja so einen Schal getragen, so wie man es im Iran oder in Pakistan häufig sieht. Locker über den Kopf gelegt, einmal vorne umgeschlagen und die Enden über die Schulter geworfen. Uns ist dann „zufällig“ der Schal vom Kopf „gerutscht“. In der Schule haben wir kein „Kinderkopftuch“ getragen. Wir haben Jeanshosen getragen, kombiniert mit einem langen pakistanischen Oberteil und einem dünneren Mantel oder ähnliches darüber.

In der 5. oder 6. Klasse sind wir auch in eine andere Stadt umgezogen, in der auch sehr viele Verwandte gelebt haben. Ich musste auch aufpassen, dass ich mich nicht erwischen lasse mit Kleidung, die irgendwie nicht angebracht ist. Meistens hat es gereicht, wenn man auf der Straße lief und zumindest einen Schal um den Hals hatte. Da waren die Verwandten nicht so extrem streng. Auch meine Mutter war da nicht so extrem streng. Wenn man in die Moschee gegangen ist, dann hat man natürlich ein Kopftuch getragen. Es war schon lockerer. Trotzdem hatte ich ein bisschen Angst, wenn ich an einem Taxistand vorbeigekommen bin. Gefühlt waren fast alle in meiner Familie als Taxifahrer tätig.

 

Dann kam eine Phase in meinen Leben, wo ich beschlossen habe den Koran auswendig zu lernen. Das war der Zeitpunkt, wo ich ein strikteres Kopftuch getragen habe. Mit Stirnband und mit einem Tuch, welches nicht mehr locker sitzt, sodass keine Haare mehr zu sehen sind. Das habe ich so ein, zwei Jahre getragen, bis ich das viel zu strikt fand und dann habe ich halt doch wieder das pakistanische Kopftuch getragen, aber dann freiwillig. So ungefähr bis zum Abitur, während ich den Koran auswendig gelernt habe, zumindest zu großen Teilen. Und dann habe ich auch diesen Schleier getragen, wo man den Mundbereich und Nase abdecken kann. Nicht in der Schule, aber auf diesen Jahresversammlungen der Ahmadiyya. Meine Eltern gehören der Ahmadiyya-Gemeinde an. Ich weiß nicht, ich habe mich damit so erwachsen gefühlt, ich war superreligiös und fand diese Art von Schleier wichtig. Ich bin eine sehr ehrgeizige Person. Ich denke es war mit dem Gesichtsschleier auch eine ehrgeizige Sache. Ich meine, mich nach dem Koran zu richten und mich vorbildlich verhalten zu wollen. Ich dachte, wenn ich den Koran auswendig lerne, dann muss ich mich so anziehen wie es sich für eine Frau in dieser Rolle gehört. Den Gesichtsschleier habe ich dann auf diesen Versammlungen getragen, wenn ich von der Frauenseite rüber zu der Männerseite bin. Bei diesen Versammlungen reisen Familien gemeinsam an, aber auf dem Weg zu den Hallen trennen sich Männer und Frauen nach Geschlechtern und meist sind die Kinder bei den Müttern, ab einem bestimmten Alter gehen die Söhne auch mit den Vätern mit zur „Männerseite“, das handhaben die Familien flexibel. Töchter sind immer bei den Frauen gewesen. Gegen Veranstaltungsende haben sich die Familien auf der Seite der Männer wieder versammelt, weil sich dort wenige Frauen verschleiern müssen als die gesamte Horde an Frauen, wenn ein Mann auf „ihrer Seite“ erscheint. Trugen die Frauen soeben noch schöne aufwendig geschmückte, bunte Gewänder, waren diese verhüllt durch Mantel und Kopftuch, sobald es auf den Weg zur „Männerseite“ ging. Manche Frauen haben sich dann sogar auch komplett verschleiert, bis auf die Augen. Es war einfach Usus und ich habe es dann auch gemacht. Aber wie gesagt, das kam nicht so häufig vor.

Die Ahmadiyya oder die Ahmadis haben eine ganz spezielle Form des Kopftuchs. Das besteht glaube ich, aus vier oder fünf Lagen Stoff, was dann so zusammengebunden ist. Da gibt‘s auch eine bestimmte Technik, wie man sich das zusammenbindet und daran erkennt man übrigens auch, dass das Ahmadis sind. Nicht alle Ahmadis tragen dieses Kopftuch, aber die meisten schon.

TDF: Du hast zuvor erwähnt, die „Ehre der Familie in Gefahr zu bringen“. Dass du Angst hattest, an einem Taxistand vorbeizugehen, weil du dort auf männliche Verwandte treffen könntest. Hattest du den Eindruck, dass die sogenannte Ehre der Familie vom „richtigen“ Verhalten der Mädchen abhängig war? Dass Mädchen bestimmte religiös-kulturelle, patriarchal geprägte Wertvorstellungen erfüllen sollten? Beispielsweise keusch bleiben, „jungfräulich“ in die Ehe gehen, sich mit einem „Kinderkopftuch“ bedecken sollen. Kannst du uns bitte schildern, was bei dir „Familien-Ehre“ bedeutet hat?

Arzu: Keusch bleiben galt auch für meinen Bruder. In diesem Fall wurde nicht mit zweierlei Maß gemessen. Ansonsten, dass man keine Drogen nimmt, nicht raucht, keinen Alkohol zu sich nimmt, keinen Freund hat. Auch nicht mit irgendeinem Jungen über die Straße läuft, händchenhaltend oder so. Dass man die Jungfräulichkeit aufhebt für den einen Mann, den man dann heiraten soll, für den man angeblich bestimmt ist. Das waren so die Vorstellungen würde ich sagen. Man sollte einfach respektvoll den Eltern gegenüber sein, dass man gehorsam ist, dass man eben nicht laut ist, dass man nicht aus der Reihe tanzt. So die Vorstellung der braven Tochter, sage ich mal.

TDF: Du kennst unsere Forderungen zum „Kinderkopftuch“ in öffentlichen Bildungseinrichtungen bis 14 Jahren. TERRE DES FEMMES argumentiert, eine Regelung dient dem Kinderschutz und alle Kinder werden bestärkt frei, reflektiert und selbstbestimmt zu denken und im Unterricht traditionelle Rollenvorstellungen und Familienkonstellationen zu hinterfragen sowie eigene Entscheidungen hinsichtlich PartnerInnen- und Berufswahl zu treffen. Wie hätte dir eine Regelung geholfen, wenn es diese bundeseinheitliche Regelung zu deiner Schulzeit schon gegeben hätte?

Arzu: Ja, eine Regelung hätte mir geholfen. Ich denke schon allein, weil mein Denken sich diesbezüglich automatisch geändert hätte. Ich hätte mich mehr dazugehörig gefühlt und nicht so ausgeschlossen. Wobei ich da sagen muss, „Kinderkopftuch“ hin oder her, die Kleidung war trotzdem anders, die ich tragen sollte. Also ich sollte ja trotzdem ein langes Oberteil über meiner Hose tragen (bloß nicht den Po zu deutlich zeigen). Da wäre es vielleicht auch cool gewesen, vielleicht auch Uniformen zu haben. Sodass man anhand des Äußeren nicht ausgeschlossen wird.

Die Regelung hätte mir allein deswegen geholfen, denn viele andere Muslime waren weniger streng oder noch strenger. Eine einheitliche Messlatte ist nicht vorhanden. MuslimInnen sind sich bezüglich „Kinderkopftuch“ und Kopftuch nicht einig. Wenn das Thema in der Schule thematisiert worden wäre, hätte ich von anderen SchülerInnen auch verschiedene Perspektiven und eine andere Sichtweise kennengelernt. Ich hätte auch lernen können, mit Argumenten umzugehen. Beispielsweise wird von anderen oft argumentiert, dass auch in Deutschland im Mittelalter, im 19. oder im 20. Jahrhundert auch ein Tuch getragen wurde. Zum Beispiel bei der Feldarbeit, dessen Grund ja etwas komplett anderes ist. Die Bekleidung einer Nonne wird häufig als Referenz genommen, wo ich mir dann denke: Man kann nicht Äpfel mit Birnen vergleichen und das weißt du aber als Kind ja nicht. Über solche Dinge zu reflektieren, kritisch zu reflektieren, da sehe ich die Schulen schon sehr stark in der Verantwortung.

TDF: Du hast uns im Interview geschildert, dass dich deine Lehrerin angesprochen hat, weil du blass warst. Deine Kleidung, lange Hosen und Mäntel über den langen Kleidern, musstest du anziehen, obwohl du gerne kürzere Hosen getragen hättest. Ich hatte den Eindruck, dass du deine Kleider, speziell im Sommer, nicht als kindgerecht empfunden hast. Hätte es dir geholfen, wenn die Schule sowas mit deinen Eltern besprochen hätte?

Arzu: Mhm, ja schon. Aber so wie ich Lehrkräfte einschätze, haben sie schnell Angst oder den Eindruck, dass Schulen dann übergriffig sind. Die Frage ist wie man damit umgeht. Ich denke, Einzelfälle helfen da häufig nicht, sondern man muss schon systematisch durchgreifen. Deswegen bin ich ehrlich gesagt ernüchtert, wenn Einzelgespräche geführt werden. Es muss schon ein großes Ding sein, damit es erfolgreich ist.

Als Kind hätte ich zwischen den Stühlen gestanden. Die Vorstellungen und Erwartungen der Eltern sind wichtig und man ist abhängig von ihnen, selbst wenn man etwas anderes möchte, kann man das nicht so kommunizieren. Gerade wenn man doch ein bisschen zurückhaltender und nicht so selbstbewusst ist. Schwierig. In der 9. Klasse habe ich dann freiwillig das Kopftuch getragen. Da hat mich eine Lehrerin zu einem mit mir zuvor vereinbarten Termin beiseite genommen und gefragt, ob ich das wirklich freiwillig trage und ich habe ihr gegenüber betont, dass ich das wirklich freiwillig trage. Aber ich fand es auch sehr aufmerksam von ihr. Ich habe mich da nicht in eine Ecke gedrängt gefühlt, wie manche sich fühlen würden, sondern ich fand das einfach sehr nett, weil sie sich um mich gesorgt hat. Das habe ich ihr auch so gesagt.

Mir fällt noch gerade etwas anderes ein zu den Kommentaren von außen: Was ich ganz häufig gehört hatte, war: „Ist dir nicht warm?“ Mittlerweile denke ich mir, wenn ich im Sommer in einem schönen Kleid durch die Gegend laufen kann und Frauen sehe, die so voll verpackt sind, ja, da wäre mir tatsächlich warm. Ich hatte mich einfach daran gewöhnt, dass ich früher so vollgepackt war. Ich kannte es einfach nicht anders.

TDF: Vielen Dank für deine Erfahrungen, die du mit uns teilst. Was möchtest du Mädchen, die unser Interview lesen, mitgeben, falls sie wegen dem „Kinderkopftuch“ in Schulen Zweifeln und Ängste haben?

Arzu: Was kann ich Mädchen mitgeben, die vielleicht in einer ähnlichen Situation sind? Man muss zunächst immer abwägen zwischen der eigenen Sicherheit sowie den Grenzen und Möglichkeiten. Inwiefern kann man sich selbst überhaupt aus der Situation rausholen und inwiefern will man selbst überhaupt da drin sein? Beim Thema Kopftuch bei Erwachsenen, da bin ich ganz klar der Meinung, wenn man erstmal nie mit dem Thema in Berührung gekommen ist und sich für den spirituellen Islam entscheidet und das Kopftuch tragen will, dann könnte das eventuell vielleicht noch freiwillig sein. Aber in den allermeisten Fällen ist das „Kinderkopftuch“ nicht freiwillig. Selbst wenn man behauptet, dass man das freiwillig tragen würde: Diese „Freiwilligkeit“ sollte man erstmal kritisch hinterfragen. Und wenn man das „Kinderkopftuch“ positiv sieht, sollte man sich trotzdem fragen, ob man genauso von der Familie oder von den Angehörigen akzeptiert wird, wenn man es eben nicht mehr trägt. Ich finde, dass man immer auf die eigene Stimme hören sollte, wenn man es nicht will. In einer modernen, „westlichen“ Gesellschaft hat das „Kinderkopftuch“ nichts zu suchen. Das ganze „System“ dahinter dreht das Rad der Aufklärung zurück. Ich bin der Meinung, dass mit Selbstbestimmung und Freiheit argumentiert wird, die im Kern gar keine ist.

Ich würde jungen Mädchen, spätestens wenn sie 18 sind oder wenn sie die Möglichkeit haben, ihren eigenen Weg zu gehen und sich lösen können, sagen: Sucht euch Hilfe, geht in Frauenhäuser oder hört euch Geschichten an von Frauen, die es auch geschafft haben. Ich bin auch ein Beispiel dafür: Ich habe es geschafft, aus diesem System auszubrechen und mich eben nicht weiter sexualisieren zu lassen, vor allem nicht früh sexualisieren zu lassen.

Fragt immer nach Gründen: „Warum?“ Ist die Leitfrage. Die Gründe, die zum „Kinderkopftuch“ kommen, sind alles andere als nachvollziehbar oder förderlich. Hört nie auf, zu fragen und pflegt und hegt ein kritisches Denken. Und dass jede Frau, egal wie sie aussieht, egal was sie trägt, das Recht darauf hat, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dass sie sich keineswegs von Männern, Familie, Freunden oder Verwandten sagen lassen sollte, wie sie auszusehen, sich anzuziehen und ihr Leben zu führen hat. Ihr dürft euch keineswegs entmutigen lassen. Wenn ihr einen anderen Weg wählt, sollt ihr wissen, dass es auch entsprechende Hilfsangebote für Mädchen und Frauen gibt: nutzt diese.

TDF:  Herzlichen Dank für deine Zeit und die Einblicke, die du uns in dein Leben gegeben hast.


[1] Arzu ist nicht der richtige Vorname. Die interviewte Frau hat den anonymisierten Namen „Arzu“ selbst gewählt. Arzu ist ein weiblicher Vorname und bedeutet im orientalischen Sprachraum „Wunsch“. Sie hinterlässt damit den Wunsch und strebt nach einer gleichberechtigten Welt, in der Frauen nicht mehr unterdrückt werden.

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