DIE GANZE GEWALT

Femizide sind nur die Spitze patriarchaler Gewalt
Obwohl geschlechtsspezifische Gewalt in Deutschland ein strukturelles Problem ist, konzentriert sich die mediale Berichterstattung vor allem auf Tötungen und besonders brutale gewaltvolle Übergriffe, die oft als Einzelfälle dargestellt werden. Das zeigte eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung.[1] Diese Darstellung erlaubt uns auch uns abzugrenzen. Die Betroffenen, wie auch die Täter, sind andere. Die Gewalt empört, aber sie betrifft uns nicht wirklich.
Wo die Gewalt anfängt
Tatsächlich fängt sie aber schon viel früher an und sie betrifft uns alle. Studien zeigen, dass ein direkter Zusammenhang von Sexismus, Frauenfeindlichkeit und tatsächlicher Gewaltbereitschaft besteht. Auch patriarchale Strukturen, Geschlechterstereotype und toxische Männlichkeitsbilder bedingen Gewalt. Anders als Vergewaltigungen, Übergriffe und Morde sind sie viel weniger sichtbar. Und doch sind sie allgegenwärtig. Die Frage ist: Wo beginnt die Gewalt?
Gewalt als patriarchaler Kontrollmechanismus
Femizide, also Tötungen von Frauen, weil sie Frauen sind, passieren häufig im Kontext von häuslicher Gewalt oder Partnerschaftsgewalt, die in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommt. Eines aber haben Gewalttäter in der Regel gemeinsam: Sie haben eine sexistische bzw. frauenfeindliche Haltung. Sie sind zum Beispiel der Auffassung, Frauen seien von Natur aus manipulativ und ausbeuterisch, sind allgemein misstrauisch gegenüber Frauen und werten Frauen ab. Begründet ist dieser Frauenhass in patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und den daraus entstandenen ungleichen Machtverhältnissen, die zwischen Männern und Frauen besonders ausgeprägt sind. Macht, Überlegenheit und Gewalt sind Kernaspekte traditioneller Männlichkeitsvorstellungen. Die Autorin Susanne Kaiser spricht von einem Backlash gegen die Bestrebungen der Gleichberechtigung, die als Bedrohung der Vorherrschaft der Männlichkeit wahrgenommen wird. Auch Trennungen oder Ablehnungen können als Bedrohung der männlichen Vorherrschaft wahrgenommen werden, weil Frauen sich so der Kontrolle des Mannes entziehen. Die Gewalt wird zum Kontrollmechanismus des Patriarchats, der sich gegen das Nichtmännliche richtet.[2] Dieser Kontrollmechanismus wirkt aber schon lange bevor es zu einer Vergewaltigung oder einem Femizid kommt- mit sexistischen Witzen, Respektlosigkeit, Diskriminierung und frauenfeindlichen Stereotypen, die unsere Gesellschaft tief durchdrungen haben.
Radikalisierung im Internet
Wie auch Gewalt dient Frauenfeindlichkeit der Abwertung und Entmenschlichung der Frau bzw. des Nichtmännlichen mit dem Ziel die männliche Vorherrschaft zu demonstrieren und zu stärken. Laut der Leipziger Autoritarismusstudie 2022 haben jeder vierte Mann und jede zehnte Frau ein gefestigt antifeministisches Weltbild[3], lehnen also feministische Ideen, Forderungen oder Errungenschaften, wie zum Beispiel die Gleichstellung, ab. Strukturelle Ungleichheiten werden geleugnet und Gleichstellungsbestrebungen als übertrieben oder unnötig dargestellt. Das kann gefährlich sein. Studien zeigen, dass es in gleichberechtigten Haushalten seltener zu Gewalt kommt. Sind Aufgabenteilung und Entscheidungsfindung ungleich, steigt auch das Risiko für Gewalt. Leider werden frauenverachtende und antifeministische Narrative immer stärker auch in den sozialen Medien verbreitet. In Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unsicherheit bietet der Rückgriff auf traditionelle Männlichkeit einfache Antworten auf komplexe Fragen. Jüngst zeigte die britischen Serie Adolescence, wie toxische Männlichkeitsbilder und frauenfeindliche Online-Subkulturen (wie die „Manosphere“ oder „Incel“-Foren) junge Männer beeinflussen können. In der Serie führt das zum Mord an einer Schülerin, motiviert von Frauenhass. Die Darstellung schockiert. Trotzdem wird bei der strafrechtlichen Sanktionierung solcher Taten oft Milde walten gelassen. Auch das gehört zur Gewalt gegen Frauen.
Straffreiheit bei Gewalt gegen Frauen?
Ende Dezember 2024 verurteilte das Münchner Amtsgericht einen Feuerwehrmann, der eine Bekannte vergewaltigt hatte. Die Strafe von 11 Monaten wurde zur Bewährung ausgesetzt. Der Grund: bei einem höheren Urteil hätte der Feuerwehrmann seinen Beamtenstatus verloren. Das Strafmaß müsse das zukünftige Leben des Täters berücksichtigen. Diese Empathie gegenüber einem nachgewiesenen Gewalttäter ist Ausdrucksform patriarchaler Gesellschaftsstrukturen und ungleicher Machtverhältnisse und leider kein Einzelfall. Selbst wenn es bei geschlechtsspezifischer Gewalt zu einer Verurteilung kommt, wird meist das Strafmaß nicht ausgeschöpft. Bei Sexualstraftaten ist nachgewiesen, dass die Strafen in der Regel im unteren Drittel des Möglichen liegen. Mehr als die Hälfte wird zur Bewährung ausgesetzt.[4] Bei Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz, also bei häuslicher Gewalt, kommt es nur in 12 Prozent der Fälle zu einer Verurteilung. Das ist fatal, denn die strafrechtliche Sanktionierung einer Tat vermittelt auch gesellschaftliche Werte. Dem Täter gegenüber wird kommuniziert, dass er Verantwortung tragen muss, der Betroffenen, dass ihr ein Unrecht widerfahren ist, für das der Täter verantwortlich ist. In der Realität ist die Kluft zwischen strafrechtlicher Sanktionierung und den schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen, mit denen sie oft ein Leben lang kämpfen, unüberbrückbar. In den schlimmsten Fällen wird Betroffenen eine Mitschuld gegeben. So werden die Täter geschützt. Eine norwegische Studie zeigte, dass das Strafmaß oft deutlich reduziert wird, wenn in Gerichtsverfahren Stereotype und Vorurteile gegen die Opfer genutzt werden.[5]
DIE GANZE GEWALT
Sexismus, Frauenhass und Geschlechtervorurteile sind alles andere als harmlos. Wer eine bestimmte Einstellung gegenüber Frauen hat und sich toxischen Männlichkeitsbildern verschreibt, wird auch eher gewalttätig. Und trotzdem sind sie als Ausdrucksformen von Geschlechterungleichheit und patriarchalen Strukturen allgegenwärtig. Im Rechtssystem tragen sie dazu bei, dass gewalttätige Männer straffrei ausgehen, während gewaltbetroffenen Frauen vermittelt wird, dass wir dem Einfluss der Gewalt auf ihr Leben keine Bedeutung zumessen. Im Internet werden junge Männer radikalisiert und gegen Frauen aufgehetzt. Mit Witzen und frauenverachtender Sprache werden Frauen ständig an ihre untergeordnete Position, sowie die allgegenwärtige Bedrohung durch männliche Gewalt erinnert. Die ganze Gewalt beginnt bei unseren Rollenbildern. Und genau dort muss wirksame Gewaltprävention ansetzen.

Quellen:
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09546553.2023.2292723#abstract
https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd13-23
https://www.kriminologie.de/index.php/krimoj/article/view/175/112
https://uebermedien.de/99781/warum-gewalt-gegen-frauen-extremistisch-ist/
https://www.zeit.de/gesundheit/2024-09/gewalt-frauen-frauenfeindlichkeit-vergewaltigung-missbrauch
https://taz.de/Pelicot-Prozess-und-Rape-Culture/!6054069/
https://kripoz.de/2024/02/01/die-strafrechtliche-sanktionierung-von-sexualdelikten/
https://www.evangelischefrauen.de/wp-content/uploads/2024/03/Backlash_Rueckblick.pdf
Hedayati, A., Maier, S. P., Lutz, P., Greven N. L., Rebmann, F., Sauer, B., Habermann, J., Meltzer C. E., Bedrosian, A., Opitz-Belakhal, C. (2023): Femizid. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Vol. 73.