Frauenhandel in der Cyber-Ära
Männer zerren Frauen nachts von der Straße oder stürmen wie in 96 hours ihre Wohnungen, um sie brutal zu entführen – so stellen sich viele Menschenhandel vor. Während diese Szenarien in der Realität fortbestehen und neue Methoden von gleichartiger Brutalität geprägt sind, hat sich Menschenhandel zunehmend in den digitalen Raum verlagert. Laut Europol (1) nutzen MenschenhändlerInnen verstärkt das Internet, um ihre Aktivitäten zu organisieren und potenzielle Betroffene zu rekrutieren. Die Covid-19-Pandemie hat diesen Trend beschleunigt. Dem Bundeslagebild Menschenhandel (2) zufolge stieg der Anteil der Betroffenen, die durch Kontaktanbahnung über das Internet in die sexuelle Ausbeutung gelangten, 2023 im Vergleich zum Vorjahr von 17,9 % auf 31,2 %. Ein Hackathon in den Niederlanden 2023 zeigte, dass Online-Plattformen und soziale Medien wie TikTok, Instagram, X (ehemals Twitter) und Facebook sowie Dating-Apps und Bewertungsforen für die Anwerbung von Menschen für sexuelle und Arbeitsausbeutung genutzt werden (3). Besonders alarmierend ist, dass diese Rekrutierungsversuche oft in Community-Gruppen stattfinden, die gezielt auf die geografische Herkunft und Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten sind – beispielsweise das Anbieten von Wohnraum gegen Sex an ukrainische Geflüchtete.
Neue Strategien: Digitale Manipulation statt physischem Zwang
Der physische Zwang, der traditionell mit Menschenhandel verbunden ist, weicht zunehmend digitaler Manipulation. Menschenhändler setzen Pyramidensysteme ein, ein betrügerisches Geschäftsmodell, das Gewinne hauptsächlich durch das Anwerben neuer Mitglieder statt durch echte Verkäufe generiert, und nutzen „Alpha-Male“-Strategien, um vor allem Frauen und Mädchen auf Plattformen wie OnlyFans zu drängen. Recherchen des Y-Kollektivs (4) und STRG_F (5) zeigen, dass antifeministische Netzwerke wie „Champlife“ gezielt verunsicherte Männer ansprechen und ihnen finanziellen Erfolg versprechen, indem sie Frauen emotional manipulieren und ausbeuten.
Eine Untersuchung der University of Northern Colorado (6) verdeutlicht das Ausmaß dieser digitalisierten Ausbeutung. Ein Netzwerk von OnlyFans-Konten, das von einem Menschenhändler und seiner Komplizin betrieben wurde, generierte über eine Million US-Dollar, ohne dass die betroffenen Frauen Kontrolle über oder Teilhabe an ihren Einnahmen hatten. Obwohl OnlyFans Technologien wie IP-Tracking einsetzt, um Menschenhandel zu verhindern (7), bleibt es eine große Herausforderung, die TäterInnen zur Rechenschaft zu ziehen. In Fällen, in denen Frauen ihre Konten selbst eröffnen und mit ihrem Ausweis verifizieren, die Einnahmen aber an Dritte fließen, tragen die Frauen selbst die rechtliche Verantwortung für potenzielle Steuerhinterziehung.
In Deutschland ist das strafbar – etwa als Menschenhandel (§ 232 StGB), Betrug (§ 263 StGB) oder Nötigung (§ 240 StGB). Trotzdem kommt es selten zu Prozessen, da die Betroffenen unter massivem Druck stehen und die Beweislage prekär ist. Zudem gestaltet sich die strafrechtliche Verfolgung von digitaler Zuhälterei schwierig, da physischer Kontakt zwischen Frauen und KonsumentInnen oft fehlt – dieser ist rechtlich allerdings notwendig, um von Prostitution und folglich von Zuhälterei sprechen zu können (4). Hier müssen Gesetze dringend angepasst werden, um digitale Ausbeutung genauso konsequent zu verfolgen wie physische.
Antifeministische Vorbilder und Ausbeutung im Wohnungsmarkt
Ein berühmtes Beispiel sind die Brüder Andrew und Tristan Tate, die mehrfach wegen Menschenhandels und Zuhälterei angeklagt wurden. Sie nutzen sexistische Sprache und vermarkten emotionale Manipulation von Frauen als Business-Strategie. Ihre riesige Social-Media-Präsenz, besonders auf Instagram, beeinflusst tausende junge Männer, was die Verbreitung dieser Ideologien verstärkt (8). Solche Netzwerke nutzen auch die sogenannte Loverboy-Methode, bei der über soziale Medien Vertrauen aufgebaut wird, um Frauen anschließend sexuell und finanziell auszubeuten.
Auch der Wohnungsmarkt ist betroffen, was Plattformen zur Suche von Unterkünften betrifft. In Telegram-Gruppen für (momentan überwiegend ukrainische) Geflüchtete wird Wohnraum oft im Austausch für sexuelle Handlungen angeboten oder sie müssen sich im Austausch gegen den Wohnraum für die „VermieterInnen“ prostituieren und das Geld abgeben. Diese digitalen Plattformen bieten den TäterInnen eine enorme Reichweite, da sie viele potenzielle Betroffene auf einmal erreichen, ohne gezielt Einzelpersonen ansprechen zu müssen. Betroffene nehmen über Inserate oft eigenständig Kontakt mit den TäterInnen auf. Das erhöht das Risiko für vulnerable Gruppen, die Schutz und Unterkunft suchen (9).
Fehlende Entschlossenheit: Die Politik muss handeln
Deutschland reagiert weder entschlossen genug auf Menschenhandel noch auf dessen digitalen Wandel. Ein nationaler Aktionsplan ist noch in Arbeit. Bündnis90/ Die Grünen haben mit ihrem Positionspapier gegen Menschenhandel wichtige Schritte unternommen, aber der Rest der Regierung muss folgen. Dabei darf der Schutz von Menschenrechten nicht als Vorwand für repressive Migrationspolitik missbraucht werden - der Fokus muss auf dem Kampf gegen Ausbeutung liegen, ohne die Rechte von MigrantInnen zu beschneiden.
Die am 14. Juli 2024 in Kraft getretene geänderte EU-Richtlinie 2011/36/EU stellt einen wichtigen ersten Schritt in diese Richtung dar. Sie zielt unter anderem darauf ab, die Regelungen an die Digitalisierung und den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) anzupassen. Durch striktere Bewertungen des IKT-Einsatzes bei Menschenhandel und den Ausbau des Fachwissens in der Strafverfolgung schafft sie die Grundlage für Präventionsmaßnahmen, die die Online-Dimension von Menschenhandel gezielt berücksichtigen. Hinterfragt wird jedoch die Schlagkraft dieser Reform: Der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK), ein Zusammenschluss von Fachberatungsstellen zur Bekämpfung des Menschenhandels, kritisiert, dass die EU es versäumt habe, ein praxisnahes Konzept zu entwickeln, dieses in die Regelungen zu Cyberkriminalität einzubetten und klare Definitionen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen (10). Die Richtlinie beschränke sich zu stark auf die Verbreitung von „Materialien sexueller Natur“ (Art. 4) und nicht alle Ausbeutungsformen von IKT-gestützten Geschäftsmodellen werden berücksichtigt. Zudem wird bemängelt, dass die technologische Sensibilisierung nur für Strafverfolgungsbehörden und nicht für die gesamte Justiz vorgesehen ist, was den notwendigen infrastrukturellen Ausbau und die Nutzung von Ressourcen des Privatsektors vernachlässigt. Eine klare Verknüpfung mit bestehenden EU-Regulierungen (Digital Services und Digital Market Act) fehlt ebenfalls. Der KOK e.V. fordert eine umfassende Regelung aller Ausbeutungsformen, eine breitere Sensibilisierung der Justiz und erwartet, dass die deutsche Gesetzgebung diese Lücken proaktiv schließt, indem sie ihren Gestaltungsspielraum nutzt. TERRE DES FEMMES ist Miglied des Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel und teilt diese Perspektive.
Quellen
- Europol (2024): Targeted: human traffickers luring victims online. https://www.europol.europa.eu/media-press/newsroom/news/targeted-human-traffickers-luring-victims-online (aufgerufen am 10.10.2024)
- Bundeskriminalamt (2024): Bundeslagebild Menschenhandel 2023. https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/240820_BLB_Menschenhandel_2023.html (aufgerufen am 10.10.2024)
- Europol (2024): EMPACT Hackathon: 16 suspected human traffickers and 60 potential victims identified.https://www.europol.europa.eu/media-press/newsroom/news/empact-hackathon-16-suspected-human-traffickers-and-60-potential-victims-identified (aufgerufen am 10.10.2024)
4. Y Kollektiv (2023): Inside Champ-Life: Werden Frauen auf Only-Fans ausgebeutet? https://www.youtube.com/watch?v=Sm31JNmNGyg (aufgerufen am 01.10.2024)
5. STRG_F (2023): Inside “ChampLife”: So drängen sie Frauen auf OnlyFans https://www.youtube.com/watch?v=x6_5JQ4yLbg (aufgerufen am 01.10.2024)
6. Lundstrom, Megan/ Angie Henderson (2024): An In-Depth Financial Analysis of Sex Trafficking on OnlyFans Social Research Lab at the University of Northern Colorado. https://www.unco.edu/social-research-lab/pdf/of_report_1_19_24_final.pdf (aufgerufen am 11.10.2024)
7. OnlyFans (2024): Preventing Modern Slavery & Human Trafficking. https://onlyfans.com/transparency-center/preventing (aufgerufen am 11.10.2024)
8. Das, Shanti (2022): Inside the violent, misogynistic world of TikTok’s new star, Andrew Tate https://www.theguardian.com/technology/2022/aug/06/andrew-tate-violent-misogynistic-world-of-tiktok-new-star (aufgerufen am 01.10.2024)
9. ZDFheute Nachrichten (2023): Vom Krieg in die Sexarbeit: Wie ukrainische Frauen in Deutschland ausgenutzt werden. https://www.youtube.com/watch?v=ucu07JGFhT0 (aufgerufen am 02.10.2024)
10. Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. (2024): DIE REFORM DER EUMENSCHENHANDELSRICHTLINIE: Von guten Ansätzen und verpassten Chancen. https://www.kok-gegen-menschenhandel.de/fileadmin/user_upload/medien/Publikationen_KOK/KOK_Informationsdienst_2024_Die_Reform_der_EU-Menschenhandelsrichtlinie.pdf (aufgerufen am 01.10.2024)