Frühintervention bei Häuslicher Gewalt – Parlamentarisches Frühstück setzt Impulse für Prävention und benennt politische Verantwortung
Trotz alarmierender Zahlen häuslicher Gewalt in Deutschland setzt Prävention oft erst dann ein, wenn es längst zu spät ist. Maßnahmen wie Täterarbeit, Frauenhäuser, Beratungsstellen oder polizeiliche Wegweisungen greifen erst, wenn Gewalt bereits passiert ist – nicht, bevor sie entsteht. Dabei zeigen die Zahlen deutlich, wie dringend frühes Handeln wäre: Laut dem Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE)[1] kostet häusliche Gewalt Deutschland jährlich rund 32,5 Milliarden Euro – ganz abgesehen von ihren tiefgreifenden gesellschaftlichen Folgen. Um den Fokus stärker auf frühe Prävention zu lenken, organisierten TERRE DES FEMMES und das vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Start-up Frontline am 5. November ein parlamentarisches Frühstück zum Thema „Frühintervention bei häuslicher Gewalt“. Ziel der Veranstaltung war es, politische und zivilgesellschaftliche Akteure zu vernetzen und Maßnahmen zu diskutieren, die an den Ursachen von Gewalt ansetzen – nicht erst an ihren Folgen. Aufklärung an Schulen und Arbeitsplätzen standen dabei im Mittelpunkt. Aber auch die Potenziale einer auf den deutschen Kontext ausgelegten Gefährdungsanalyse wurden diskutiert. Diese frühzeitigen Interventionen könnten nicht nur gewaltvolle Schicksale verhindern, sondern auch die enormen Ausgaben reduzieren, die derzeit in Schutzeinrichtungen, Fachberatungsstellen, Gesundheitsversorgung und Justizverfahren fließen.
Politische und zivilgesellschaftliche Vernetzung
Neben VertreterInnen der zivilgesellschaftlichen Organisationen ZONTA International und Charta der Vielfalt nahmen Abgeordnete der Grünen, CDU, Linken und SPD sowie LandesvertreterInnen aus Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern teil. Im Bistro Marie im Bundestag kamen sie zu einem offenen Austausch zusammen. Mit der Veranstaltung gelang es, zentrale Perspektiven aus Gleichstellung, Digitalisierung, Recht, Gesundheit, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenzubringen und wichtige Impulse zur Frühintervention von häuslicher Gewalt in Deutschland zu setzen. Ein dringendes Anliegen – 2024 wurde zum dritten Mal in drei Jahren ein Allzeithoch der Fälle häuslicher Gewalt erreicht (WELT 2025). Die Betroffenen sind überwiegend Frauen. Dabei spielt auch die gesellschaftliche Tabuisierung und Stigmatisierung häuslicher Gewalt eine große Rolle. Kenntnisse der komplexen Dynamiken, der hohen Betroffenheit, der gesundheitlichen Folgen und des Hilfesystems fehlen nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Rechts- und Gesundheitssystem, am Arbeitsplatz, sowie an Schulen. Die Folge: Betroffene erkennen selbst oft erst spät, dass sie Gewalt erleben, werden nicht gesehen und bekommen keine Chance auf Hilfe. Das spielt den Tätern in die Karten und führt dazu, dass die Gewalt ungebrochen eskaliert. Wie lässt sich das ändern?
Modernisierung von Risikoanalyse und Gefahrenmanagement
Viele Schutzmaßnahmen für Frauen und Kinder in Deutschland basieren auf einer verlässlichen Gefährdungsanalyse – doch diese wird bislang zu selten und oft mit ungeeigneten Instrumenten durchgeführt. Studien zeigen, dass professionelles Risikomanagement die Rückfallquote von Tätern um bis zu 50 Prozent senken kann (Weis et al. 2016). Dennoch kommen häufig veraltete Verfahren wie ODARA oder DA zum Einsatz, die aus Nordamerika stammen und nicht auf den deutschen Kontext zugeschnitten sind (Seewald 2017). Verpflichtende, standardisierte Gefährdungsanalysen könnten aufzeigen, wie groß das tatsächliche Risiko von Partnerschaftsgewalt ist – und Leben retten. Stattdessen wird die Gefahr oft unterschätzt: Das kann schlimme Folgen haben- bis hin zum Femizid. Gängige Maßnahmen, wie die Wegeweisung oder Erteilung eines Kontakt- und Annäherungsverbots werden nicht überprüft. Das Signal: die Gefahr für die betroffenen Frauen wird nicht ernstgenommen. Moderne, datenbasierte Ansätze – etwa das KI-gestützte Risikoanalysetool Lizzy von Frontline – könnten hier neue Standards setzen. Die Teilnehmenden des parlamentarischen Frühstücks waren sich einig: Gezielte Investitionen in Prävention und Gefahrenmanagement schützen nicht nur Leben, sondern senken langfristig auch Kosten in Justiz, Gesundheitssystem und Sozialarbeit. Dafür braucht es jedoch klaren politischen Willen – und eine verlässliche Finanzierung.
Der Arbeitsplatz als Schlüsselort für Prävention
Auch ArbeitgeberInnen könnte bei der Prävention eine wichtige Rolle zukommen – denn an nahezu jedem Arbeitsplatz gibt es mit hoher Wahrscheinlichkeit Betroffene, aber auch Täter. Durch gezielte Schulungen für Personalabteilungen, Führungskräfte und Mitarbeitende lassen sich Warnsignale erkennen, Betroffene ansprechen und Unterstützungswege aufzeigen. Arbeitgeber profitieren ebenfalls: Wer Gewalt erlebt, ist häufig in Produktivität und Konzentration eingeschränkt. Laut einer KPMG-Studie (2019) berichteten 48 Prozent der Betroffenen von sinkender Arbeitsqualität und 38 Prozent von geringerer Produktivität aufgrund der hohen psychischen Belastung durch die erlebte Gewalt. Analysen von Frontline (2022) zeigen, dass Unternehmen durch intern institutionalisierte Unterstützung bis zu 309 Euro pro Tag einsparen könnten.
Im Gespräch mit den Teilnehmenden des Parlamentarischen Frühstücks wurde deutlich: Arbeitgeberschulungen schaffen Bewusstsein, fördern eine Kultur des Hinsehens und senden zugleich ein klares Signal an Täter: Gewalt wird nicht toleriert. Ein wichtiger Impuls wurde von den Teilnehmenden gegeben: für eine flächendeckende Umsetzung sollten bestehende Strukturen wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einbezogen werden. Wünschenswert wäre es, dass der Staat eine Vorbildfunktion einnimmt und Arbeitgeberschulungen im öffentlichen Dienst des Bundes, in Bundesunternehmen und in den Gremien des Bundes fest integriert. In Großbritannien wird dieser Ansatz bereits erfolgreich seit vielen Jahren umgesetzt. Dort haben Politik, Gewerkschaften, Wirtschaft und Hilfesystem gemeinsam eine strukturierte Rahmenpolitik aufgebaut und Arbeitgeber als Akteure der Gewaltprävention verankert. Das wäre auch in Deutschland wünschenswert.
Prävention an Schulen: Gewalt vorbeugen, bevor sie entsteht
Als besonders wirkungsvoll wurde die Prävention an Schulen hervorgehoben. Hier lassen sich Kinder und Jugendliche flächendeckend erreichen – noch bevor sie selbst Gewalt erleben oder ausüben. Doch bislang spielt häusliche Gewalt in der schulischen Prävention in Deutschland kaum eine Rolle. Sie wird eher als Angelegenheit der Familie oder Jugendhilfe betrachtet, während Präventionsprogramme sich vor allem auf Mobbing und Konflikte konzentrieren (BMBFSFJ 2025). Dabei zeigen Studien aus Österreich und der Schweiz: Mehr als die Hälfte der Jugendlichen erlebt bereits in ihren ersten Beziehungen Partnerschaftsgewalt – mit gravierenden Folgen für psychische Gesundheit und spätere Beziehungsmuster. Häusliche Gewalt entsteht nicht plötzlich. Sie beruht auf erlernten Mustern, Rollenbildern und Machtverhältnissen, die Jugendliche in Familie, Medien und sozialen Netzwerken verinnerlichen.
Im Internet begegnen sie zunehmend sexualisierter Gewalt, Misogynie und stereotypen Geschlechterrollen – in Pornografie, Influencer-Inhalten und Online-Foren. Diese Narrative prägen, was Jugendliche über Beziehungen, Sexualität und Macht lernen. Die Schule bietet deshalb einen zentralen Raum, um Gewalt zu erkennen, Rollenbilder zu reflektieren und Empathie, Gleichberechtigung und Respekt als soziale Norm zu verankern. Internationale Programme zeigen, dass gezielte Aufklärung an Schulen Wissen, Handlungskompetenz und Beziehungsverhalten spürbar verbessert – und Gewalt messbar zurückgeht. Auch die politischen VertreterInnen beim Frühstück betonten die Notwendigkeit, Jugendliche frühzeitig aufzuklären und ihnen Alternativen zu gewaltvollen Mustern zu vermitteln.
TERRE DES FEMMES appelliert daher an die Kultusministerkonferenz, häusliche Gewalt ausdrücklich in schulische Präventionskonzepte aufzunehmen – durch Lehrerfortbildungen, Elternarbeit und altersgerechte Unterrichtsmodule. Langfristig sollten diese Themen fest in Schulordnungen und Curricula verankert werden, damit jede Schule ein Ort wird, an dem Kinder und Jugendliche lernen: Gewalt ist kein Ausdruck von Stärke, sondern ein Widerspruch zu jeder Form von Beziehung.
Ein erster Schritt zu mehr Gewaltschutz
Das parlamentarische Frühstück brachte VertreterInnen aus Politik, Zivilgesellschaft und Sozialunternehmen erfolgreich zusammen. Durch den offenen Austausch und das klare politische Zeichen wurde das Thema Frühintervention bei häuslicher Gewalt sichtbar auf die Agenda gesetzt. Ob und wann daraus konkrete politische Maßnahmen erwachsen, bleibt abzuwarten. Dennoch markieren die Gespräche einen wichtigen ersten Schritt hin zu einer Gesellschaft, die Gewalt früher erkennt, entschlossener handelt und für Gleichberechtigung eintritt.
Quellen
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2025): Bedarfsanalyse zur Prävention geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, Berlin.
Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG (Hg.) 2020: Gewalt in Jugendlichen Paarbeziehungen. Bern. www.ebg.admin.ch/dam/de/sd-web/JQuxUazpX3AC/B4%20Gewalt%20in%20jugendlichen%20Paarbeziehungen_EBG_2020.pdf
KPGM 2019: The Workplace Impacts of Domestic Violence and Abuse. A KPGM report for Vodafone Group.
Seewald, Katharina, Rossegger Astrid, Frank Urbaniok, und Jérôme Endrass (2017): Assessing the risk of intimate partner violence: Expert evaluations versus the Ontario Domestic Assault Risk Assessment, in: Journal of Forensic Psychology Research and Practice, Bd. 17, Nr. 4, 217–231. doi.org/10.1080/24732850.2017.1326268.
WELT 2025: Häusliche Gewalt erreicht in Deutschland Allzeithoch. ”https://www.welt.de/politik/deutschland/article688cc3065adb8e011ce173fc/Haeusliche-Gewalt-erreicht-in-Deutschland-Allzeithoch.htm
[1] www.frauenhauskoordinierung.de/themenportal/gewalt-gegen-frauen/folgen-der-gewalt/kosten-der-gewalt