• 07.02.2025

Rückblick auf das Figurentheaterstück "Kinderkopftuch": Eine Debatte über Religionsfreiheit, Emanzipation und Mädchenrechte

Von links nach rechts: Christa Stolle (Bundesgeschäftsführerin TDF), Künstlerin Frau Gießelmann-Goetze, Stephanie Walter (Referentin für Gleichberechtigung und Integration TDF), Gesa Birkmann (Abteilungsleiterin Themen und Projekte TDF)

„Doch um wessen Religionsfreiheit geht es denn, wenn kleine Mädchen dieses Kopftuch tragen und selber noch gar keine Vorstellung von Religionsfreiheit haben?“ - Frau Gießelmann-Goetze

Am 04.02.2025 feierte das Figurentheater für Erwachsene „Wenn Mädchen „Kinderkopftuch“ tragen - Stoff für viel Diskussion?!?“​ der Künstlerin Gießelmann-Goetze seine Premiere in Berlin. Aufgeführt wurde das Theaterstück in den Räumlichkeiten der Bundesstiftung Gleichstellung. Ende 2024 wurde es vom Ministerium für Familie, SeniorInnen, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ im Raum Stendal gefördert. Für die Berlinpremiere enstand eine Kooperation zwischen der Künstlerin und TERRE DES FEMMES.

Gleichberechtigung ist kein selbstverständliches Recht.

Die Verfasserin des Figurentheaters Frau Gießelmann-Goetze studierte Jura und war bis zu ihrer Pensionierung an Gerichten in Berlin und Stendal als Richterin tätig. Lange Zeit habe sie sich mit Fragen der Gleichberechtigung und Emanzipation der Frau nicht ernst­haft auseinandergesetzt. Sie selbst habe sich in ihrer Identität als Frau nie benachteiligt gefühlt und musste auch nie um ihre eigene Gleichberechtigung kämpfen, sondern habe es als ein ihr selbst­verständlich zustehendes Recht wahrgenommen. Die Künstlerin sah daher keine Veranlassung, diese Rechte in der Gesellschaft zu thematisieren. Als genauso selbstver­ständ­lich habe sie Religionsfreiheit wahrgenommen. Wenn muslimische Frauen das Tra­gen ihres Kopf­tuchs in Deutschland vor Gericht durchgesetzt haben, war das für sie Ausdruck geleb­ter Reli­gions­freiheit einer selbstbewussten Frau. 2020 fiel Frau Gießelmann-Goetze auf, dass zu den kopftuchtragenden Musliminnen zunehmend Mädchen gehören, die sich ihrer äußeren Erschei­nung nach noch im Grundschulalter befinden. Das habe einen Denkprozess bei ihr ausgelöst. Sie halte Eman­zipation und Gleichberechtigung nicht mehr für selbstverständliche Rechte, genauso wenig wie Religionsfreiheit. Diese Rechte und Freiheiten sind aber für eine Demokratie von großer Bedeutung, und um sie zu bewahren, müssen sie genau dort geschützt und vermittelt werden, wo der Staat seinen Bildungsauftrag für Kinder wahrnimmt, und das ist in der Grundschule.

Gießelmann-Goetze während der Vorführung von „Wenn Mädchen „Kinderkopftuch" tragen - Stoff für viel Diskussion?!?"

Keine Ausnahmen – Frauenrechte gelten überall

Bei der Premiere des Stücks am 04.02.2025 begrüßte Gesa Birkmann, Abteilungsleiterin Themen, Projekte, die zahlreichen BesucherInnen. In ihrer Eröffnungsrede ging sie kurz darauf ein, warum sich TERRE DES FEMMES seit vielen Jahren für eine bundeseinheitliche Regelung des „Kinderkopftuchs“ in öffentlichen Bildungseinrichtungen (Kita und Schule) für alle Mädchen bis zum 14. Lebensjahr einsetzt.

Denn als strikt säkulare Frauenrechtsorganisation gilt für TERRE DES FEMMES: Alle Geschlechter sind einander ebenbürtig – ohne Wenn und Aber. Daher ist unser Ziel die Überwindung patriarchaler Strukturen durch gelingende Integration, Schutz und Chancen aller Frauen. TERRE DES FEMMES wendet sich deshalb auch gegen jeden Kulturrelativismus: Frauenfeindliches Brauchtum ist auch bei Minderheiten in unserer Gesellschaft, die sich dabei auf kulturell-religiöse Gründe berufen, nicht zu tolerieren. Frauenrechte sind Menschenrechte und Menschenrechte gelten ohne Einschränkung.

Kulturrelativismus ist in unserer feministischen Sichtweise ein Gegenbegriff zum Universalismus. Ein Kulturrelativismus lässt zu, dass aufgrund kulturell-religiöser Herkunft Menschenrechte nicht universal gelten müssten. Alltagssprachlich findet man diese Haltung in dem Sprichwort „Andere Länder, andere Sitten”.

Kulturelle Verhaltensformen müssten immer im Licht des dazugehörigen Sozial-, Wertesystems und Kulturverständnisses gesehen werden. Zum Beispiel akzeptiert ein Kulturrelativismus, dass Frauen in anderen Ländern nicht die gleichen Rechte zugestanden werden wie Männern, oder dass Homosexualität strafbar ist.

In Deutschland führt eine kulturrelativistische Ansicht dazu, dass Mädchen und Frauen mit Migrations- und Fluchthintergrund oder aus streng patriarchalen Verhältnissen ebenso weniger Rechte zugestanden werden. Aus einer falsch verstandenen Toleranz, die auf den Kulturrelativismus zurückzuführen ist, wird akzeptiert, dass beispielsweise streng religiöse Personen Homosexuelle ablehnen oder, dass Mädchen weniger Rechte zugestanden werden als Jungen. Sie dürfen beispielsweise nicht mit auf Klassenfahrt oder nicht am Schwimmunterricht teilnehmen. Sie sollen früh traditionelle Familien- und Rollenbilder verinnerlichen.

Von scheinbarer Freiwilligkeit und der Frage der Religionsfreiheit

Im Theaterstück von Frau Gießelmann-Goetze entsteht zwischen der Großmutter und ihrer Enkelin Tine ein Streitgespräch zum „Kinderkopftuch“. Aida-Abir ist die kleine Schwester von Fatima, geht in die 3. Klasse und trägt ein „Kinderkopftuch“, wie ihre große Schwester.  Fatima ist die Freundin von Tine. Tines Großmutter vertritt die Meinung, dass das „Kinderkopftuch“ bei Mädchen in diesem Alter kein Ausdruck von Religionsfreiheit sein kann und ermutigt Tine, selbst die theologischen Debatten zu verfolgen. Im Koran gibt es selbst für Frauen keine eindeutige Textstelle. Allerdings wird das „Kinderkopftuch“ in Deutschland zu Unrecht als Symbol von Religionsfreiheit gesehen. Das Streitgespräch greift auf der persönlichen Ebene von Großmutter und Enkelin elementare gesellschaftliche Diskurse auf. Tine vertritt die Meinung, ein „Kinderkopftuch“ sei Ausdruck von kultureller Vielfalt und Diversität, weiblicher Selbstbestimmung, es zu kritisieren schüre anti-muslimische Ressentiments. Die Großmutter hingegen betont, wie wichtig es ist, dass Mädchen die Möglichkeit zur Emanzipation erhalten, sich entwickeln können und im Grundschulalter noch keine entwickelte Vorstellung von Religion und Sexualität entwickelt haben. Solange dürfen sie auch keine Kopfbedeckung als Symbol für ein bestimmtes religiöses Bekenntnis und Sexualverständnis tragen.

Propaganda für das „Kinderkopftuch“ durch iranische Extremisten

Nach der Aufführung skizzierte Stephanie Walter, Referentin für Gleichberechtigung und Integration bei TERRE DES FEMMES, die Regelung zum „Kinderkopftuch“. Während im Iran seit vielen Jahren die Protestierenden der FRAU LEBEN FREIHEIT Bewegung, die sich gegen den staatlichen Verhüllungszwang einsetzten, inhaftiert, gefoltert und hingerichtet werden, blieb die Propaganda des Islamischen Zentrums Hamburg (IZH) aufrechterhalten. Der Leiter des IZH, Mohammed Hadi Mofatteh, ist nach IZH-Angaben die höchste geistliche Autorität der Schiiten in Europa. Laut dem Hamburger Verfassungsschutz ist er dem Obersten Führer des Irans, Ajatollah Ali Chamenei, berichtspflichtig und weisungsgebunden und galt als dessen Stellvertreter in Deutschland. Er machte Propaganda für das „Kinderkopftuch“, indem er sagte, dass Mädchen mit 9 Jahren die religiöse Reife erreicht haben, mit der auch das Tragen eines „Kinderkopftuchs“ erreicht sei. Im Iran können Mädchen ab 9 Jahren bereits legal verheiratet werden. Ab der Einschulung müssen sie verschleiert zur Schule kommen. Die Schließung des IZHs und seiner Teilorganisationen Ende Juli 2024 ist positiv zu bewerten. Allerdings war die Schließung längst überfällig. Seit Jahrzehnten wird es vom Verfassungsschutz als extremistisch eingeordnet und galt als bedeutendstes Propaganda- und Spionagezentrum der iranischen Staatsregierung in Europa

In solcher religiösen Propaganda sieht TERRE DES FEMMES die Gefahr, dass diese Mädchen indoktriniert werden sowie von ihren Eltern, ihrem sozialen Umfeld und MitschülerInnen unter Druck gesetzt werden, das „Kinderkopftuch“ zu tragen. Auch deswegen fordern wir eine gesetzliche Regelung zum „Kinderkopftuch“ in öffentlichen Bildungseinrichtungen. Schulen sind besonders schützenswerte Orte und müssen einen Raum der neutralen Wissensvermittlung darstellen. Dort sollen Kinder sich unabhängig ihres Elternhauses und sozialen Umfelds frei von religiösen Zwängen und Geboten gleichberechtigt und selbstbestimmt entfalten können.

Stehempfang der Veranstaltung

Diskussion über den Umgang mit rechten Narrativen

Das Publikum konnte Frau Gießelman-Goetze und Frau Walter Fragen stellen und in den Austausch gehen. Eine Besucherin empfand das versöhnliche Ende zwischen Großmutter und Enkelin als etwas realitätsfern. Sie meint, dass der Diskurs zum „Kinderkopftuch“ im realen Leben oft zu spalterisch und wenig zugewandt geführt wird.  Eine andere Besucherin äußerte sich positiv zum versöhnlichen Ende zwischen Großmutter und Enkelin. Sie findet es großartig, dass die beiden im Dialog geblieben sind und ein gemeinsames, weiteres Engagement planen. Schließlich geht es um Mädchenrechte.

Was alle im Raum bewegte, war die Frage nach dem Umgang mit der Alternative für Deutschland (AfD). Im Theaterstück werden die zwei Anträge der AfD zum „Kinderkopftuch-Verbot“ thematisiert. Um Mädchen aus patriarchalen Elternhäusern zu schützen und zu sorgen, dass sie die gleichen Bildungs- und Teilhabechancen erhalten, muss ein politischer Diskurs geführt werden. Allerdings nicht mit der AfD.

TERRE DES FEMMES hat bereits 2017 eine Stellungnahme zu Rechtspopulismus und Extremismus verabschiedet. Eine Zusammenarbeit mit der AfD lehnt TDF strikt ab und betont, dass ein rückwärtsgewandtes Familien- und Frauenbild nicht erst durch die Migrationsbewegung aus streng patriarchalen Gesellschaften in unser Land kommt. Es hat auch in Deutschland Tradition und wird auch hier von politischen Parteien und religiösen Gruppierungen vertreten. Als säkuläre Frauenrechtsorganisation wünschen wir uns, dass demokratische Parteien die Debatte zum „Kinderkopftuch“ aufgreifen. Es geht um den Schutz von Mädchen und ihr Recht auf gleiche Teilhabe- und Bildungschancen.

Im Anschluss bot der Stehempfang noch Gelegenheit, sich zu vernetzen und ins Gespräch zu kommen. Es ergaben sich angeregte Diskussionen und ein Austausch von Erfahrungen aus dem Schulalltag sowie persönlichen Eindrücken. Gäste aus unterschiedlichen Berufen und Hintergründen tauschten sich aus. Besonders eindrücklich berichteten iranischstämmige Besucherinnen, warum ihnen aufgrund des Genderapartheid-Regimes im Iran auch in Deutschland eine Regelung zum „Kinderkopftuch“ persönlich wichtig ist.

Mehr Informationen zu unserer Arbeit:

Lesetipp: Christian Klar: Was ist los in unseren Schulen? Ein Schulreport. Weckruf an Politik und Gesellschaft

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