Parlamentarisches Frühstück am Weltmädchentag zum Thema „Kinderkopftuch“ an Schulen
Was wir jetzt brauchen: Eine sachliche Debatte zum Kinderschutz
Der Fokus unserer digitalen Veranstaltung am 10.10.2024, dem Weltmädchentag, lag auf dem Kinderschutz und dem Recht für Mädchen, sich frei von Druck und familiären Zwängen in der Schule entwickeln zu können. Die Einladung zu der Veranstaltung erfolgte gemeinsam mit Schirmherrin Katja Adler MdB (FDP, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) an alle demokratischen Parteien. Über 40 PolitikerInnen aus Bundestag und Landesparlamenten aus 12 Bundesländern sowie SprecherInnen für Frauenpolitik, Gleichstellung, Integration, Jugend und Bildung sind der Einladung nachgekommen.
Es ist unsere Pflicht, Kinder zu schützen
Gesa Birkmann, Abteilungsleiterin Themen, Projekte bei TERRE DES FEMMES (TDF), eröffnete die Veranstaltung mit einem kurzen Überblick der TDF-Forderung „bundeseinheitliche Regelung des „Kinderkopftuchs“ in öffentlichen Bildungseinrichtungen (Kita und Schule) für alle Mädchen bis zum 14. Lebensjahr. Kurz skizzierte sie die Vorwürfe der Islamfeindlichkeit gegenüber TDF und betonte, dass es bei der Forderung um den Schutz und die Stärkung von Mädchenrechten geht. Schule ist ein besonders schützenswerter Ort, wo Mädchen sich frei entfalten sollten und lernen über eigene und familiäre Wertevorstellungen zu reflektieren, um später selbstbestimmt Entscheidungen treffen zu können.
Frau Adler MdB schloss an diese Botschaft in ihren Eröffnungsworten an. Ihr ist es wichtig, eine sachliche und keine emotional-aufgeladene Debatte zu führen. Insbesondere nach ihrer Rede im Bundestag im November 2023 zu einem „Kinderkopftuch-Verbot“ wird sie vermehrt angesprochen. Sie schilderte Begegnungen in ihrem Wahlkreis mit Lehrkräften, die ihr von immer mehr Fällen berichten, dass MitschülerInnen muslimische Mädchen unter Druck setzen, ein „Kinderkopftuch“ anzulegen. Diese beugen sich dem Druck, auch weil sie Angst haben, angegriffen zu werden. Auf eigenen Wunsch der Ahmadiyya Gemeinde, führte sie mit ihnen auch ein Gespräch zum Kopftuch. Diese wiederum argumentieren, das Kopftuch an sich sei kein religiöses Symbol, sondern ein Symbol der Spiritualität.
Plädoyer für das gleichberechtigte Klassenzimmer
Es gibt verschiedene Ebenen wie eine Regelung begründet werden kann. Aus der Kinderschutz-Perspektive könnte eine Regelung über das schwerwiegende Recht auf freie Persönlichkeitsentwicklung begründet werden. Falls das „Kinderkopftuch“ und das Kopftuch allgemein als religiöses Symbol gelesen wird, dann plädiert Frau Adler für Untersagung von allen religiösen Symbolen – wie Kopftuch, Kreuz, Kippa, Davidstern oder Kreuz - in kommunalen Kitas und öffentlichen Schulen, im Sinne eines „Gleichgewichts der Religionen“. Persönlich ist sie der Meinung, das „Kinderkopftuch“ ist kein religiöses Symbol und sie wünscht sich diesbezüglich einen Diskurs, welcher noch nicht ausreichend geführt wird. Frau Adler MdB betont, dass PolitikerInnen staatlich verpflichtet sind, Kinder zu schützen. Sie ist selbst in der Kinderkommission tätig. Ihr ist es ein besonders wichtiges Anliegen, dass sich alle Kinder frei entfalten können. Bildungseinrichtungen sind nicht nur Orte, wo Bildung vermittelt wird, sondern auch soziale Interaktion erlernt wird, wo Kinder bestärkt werden ihre Fähigkeiten und ihr Selbstbewusstsein zu entfalten. Sie vertritt wie TERRE DES FEMMES die Meinung, dass das „Kinderkopftuch“ kein religiöses Zeichen ist, sondern ein Stück Stoff der Unterdrückung und der Frühsexualisierung.
PädagogInnen befürchten aufgrund des „Kinderkopftuchs“ Beeinträchtigungen
Im Anschluss stellte Stephanie Walter, Referentin für Integration und Gleichberechtigung bei TERRE DES FEMMES, die Ergebnisse der im Frühjahr 2024 durchgeführten 2. bundesweiten Umfrage zum „Kinderkopftuch“ an Schulen unter pädagogischem Fachpersonal vor. 784 Personen haben daran teilgenommen. 62% sehen in einer Regelung zum „Kinderkopftuch“ einen Vorteil für die freie und gleichberechtigte Entwicklung von Mädchen. 73% sind der Meinung, dass das „Kinderkopftuch“ die Entwicklung von Mädchen in jungen Jahren beeinträchtigt. Die TDF Umfrage bestätigt: Das „Kinderkopftuch“ ist kein Randphänomen, es sind keine Einzelfälle. Die Mehrheit der Mädchen fängt bereits in frühen Jahren mit der Verschleierung an (78% sind unter 15 Jahren). 64% des pädagogischen Fachpersonals gab an, dass durchschnittlich 1 – 3 Mädchen mit „Kinderkopftuch“ in einer Schulklasse sind. Schule als neutraler Raum frei von Religionssymbolen für alle (Lehrkräfte/Schülerschaft), bedeutet für die Mehrheit des pädagogischen Fachpersonal (56%), dass ihre Arbeit erleichtert würde.
Im Anschluss erfolgte ein Erfahrungsbericht einer Schulsozialpädagogin (Grundschule), den sie stellvertretend für die Fachkraft vorstellte. Die Pädagogin konnte aus terminlichen Gründen nicht teilnehmen. So schilderte die Schulsozialpädagogin, dass sie bei Mädchen, die mit einem „Kinderkopftuch“ in die Schule kommen, einerseits Stolz und anderseits auch Ambivalenz gegenüber dem Tuch spürt. Eine Schülerin erzählt ihr im Gespräch, dass sie das „Kinderkopftuch“ immer tragen müsse, da das Ablegen "haram", eine Sünde sei. Mädchen betonen den Schutzfaktor des „Kinderkopftuchs“ und teilen u.a. mit: „Dann schauen mich die Jungs nicht so komisch an.“ Die Schulsozialpädagogin berichtete von Auseinandersetzungen, in denen Jungs bereits in der fünften Klasse eine beleidigende und kontrollierende Haltung an den Tag legen. Sie beschimpfen Mitschülerinnen als „Schlampe“ und als "haram", wenn sie sich in den Augen der Jungen nicht richtig kleideten. Mädchen tragen das „Kinderkopftuch“, selbst wenn sie keine Lust haben es zu tragen, da sie keinen Stress zu Hause haben wollen.
Auch die Forderungen des pädagogischen Fachpersonals, welche sie am 6. Netzwerktreffen für Lehrkräfte und Schulsozialarbeit (24.09.2024) äußerten, wurden an die PolitikerInnen weitergegeben. Sie fordern Infomaterial zum Thema „Kinderkopftuch“ sowie mehr Aufklärung für pädagogisches Fachpersonal bedarf, um auf Gespräche mit Eltern und Schülerschaft besser vorbereitet zu sein.
Schule sollte ein Schutzraum sein
TERRE DES FEMMES ist es wichtig, dass Betroffene ihre Sichtweise schildern können. Studentin und Bloggerin Ayse hat sich für diese Veranstaltung bereit erklärt, von ihren persönlichen Erfahrungen zu berichten. Sie möchte aus eigenem Wunsch nur mit Vornamen erwähnt werden.
Ayse berichtete, dass sie mit neun Jahren begann das „Kinderkopftuch“ zu tragen. Zu dieser Zeit war sie überzeugt, dass sie das „Kinderkopftuch“ freiwillig trägt. Rückblickend aber konnte sie erkennen, dass das nicht der Fall war. Alle Frauen in ihrem Umfeld, in dem sie aufgewachsen ist, tragen ein Kopftuch. Daher gab es für sie nie die Frage ob sie, sondern ab wann sie das „Kinderkopftuch“ tragen würde. Es gäbe keine anderen Vorbilder in ihrer community. Frauen, die das Kopftuch abgelegt haben, wurden von ihrer community immer negativ dargestellt. Der Wunsch, nicht zu „diesen“ Frauen zu gehören, war deshalb groß.
Ayse merkte an, dass sie glücklicherweise nie die gleichen Erfahrungen wie die Schülerinnen in dem Bericht der Schulsozialpädagogin gemacht habe. Sie war die Einzige in ihrer Klasse, die ein „Kinderkopftuch“ getragen hat und bekam nie Druck von ihren MitschülerInnen zu spüren. Sie kann sich nur vorstellen, wie schlimm es für die Mädchen sein muss, den Druck nicht nur von zu Hause, sondern auch in der Schule zu erleben. Besonders in der Schule, die eigentlich ein Schutzraum sein sollte und ein Ort, an dem man dem Druck entfliehen kann. Das könne einen, sagte Ayse, besonders in diesem Alter, brechen.
Mit dem Anlegen des „Kinderkopftuchs“ kam auch die Frühsexualisierung ihres Körpers hinzu. Kommentare wie, der Körper eines Mädchen sei ein Schmuck und müsse daher bedeckt werden, bekam sie schon als Kind zu hören. Ihr Körper sei wie ein Lolli. Jeder Mensch würde lieber den verpackten Lolli nehmen als den unverpackten, da der nicht verpackte von Fliegen, alias Männern, umschwärmt werde.
Bei jeglichem Fehlverhalten wurde ihr von ihrer community das Gefühl gegeben, sie werfe ein negatives Licht auf ihre community und trage eine Teilschuld am sogenannten anti-muslimischen Rassismus. Daher wurde das „Kinderkopftuch“ auch ein großer Teil ihres Selbstwertgefühls und ihrer Identität. Sie identifizierte sich sehr mit dem „Kinderkopftuch“. Doch Ängste und Zweifel kamen auf und als sie sich mit Anfang zwanzig entschloss das Kopftuch abzulegen, fiel sie erst einmal in ein Loch und musste sich neu finden.
Ayse unterstützt die TDF-Forderung, dass Mädchen bis zum 14. Lebensjahr geschützt eine Identität entwickeln, um sich dann – mit der Religionsmündigkeit – für oder gegen eine Verschleierung zu entscheiden. Sie kenne viele Frauen, die sich im erwachsenen Alter für ein Kopftuch entschieden haben. Ihre Entscheidung für ein Kopftuch sei aber eine andere wie bei Mädchen.
Es endet nicht mit dem „Kinderkopftuch“
In der Fragen- und Diskussionsrunde hatten die PolitikerInnen Zeit, über die erhaltenen Informationen zu diskutieren. Eine Politikerin aus Nordrhein-Westfalen merkte an, dass sie bislang der Meinung war, der Themenkomplex „Kinderkopftuch“ könnte von den Schulen selbst geregelt werden. Sie schätze jetzt die Situation als gesamtgesellschaftliches Problem ein. Sie berichtete von einem Verein in ihrem Bundesland, der gezielt Mädchen in Fußgängerzonen anspreche und sie für den Hijab (Kopftuch) begeistern möchte sowie von Hijab-Partys, die das „Kinderkopftuch“ glorifizierten. Sie möchte das Thema wieder auf die Agenda setzen und fraktionsübergreifend arbeiten. Dies erhielt große Zustimmung von den anwesenden PolitikerInnen. Eine Bremer Politikerin berichtete von der zunehmenden Entwicklung, bereits Mädchen im Kindergartenalter zu verschleiern. Sie sieht eine der großen Herausforderungen in der Normenkollision von Religionsfreiheit, Erziehungsrecht und Gleichberechtigung.
Auf eine Rückfrage hin erzählte Ayse, wie Frauen sich in der Ehe zu verhalten haben. Ihr wurde früh beigebracht, dass eine Ehefrau dem Ehemann untergeordnet sei und sie sich unterwürfig und gefügig zu verhalten habe. Sie sei verpflichtet, Sex mit ihrem Ehemann zu haben. Mädchen müssen die Ehe als „Jungfrau“ eingehen. Ihnen wurde Angst gemacht, dass Männer mit ihren Ehefrauen zu GynäkologInnen gehen können, um nachzuprüfen, ob das „Jungfernhäutchen“ noch intakt sei. Es herrsche gesellschaftlich viel Unwissenheit über den Mythos „Jungfernhäutchen“. Das sei ein wichtiger Punkt, da es zeigt, dass das „Kinderkopftuch“ viel mehr als ein harmloses Stück Stoff darstelle. Es spiegele die patriarchalen Hierarchien und reaktionären Geschlechterrollen in Familien wider. Aus der von uns vorgestellten Umfrage geht hervor, dass 35 % der Mädchen, die das „Kinderkopftuch“ tragen, den Sexualkundeunterricht nicht besuchen. Sexualkunde ist wichtig, da alle Kinder über sexuelle Selbstbestimmung, Mythos Hymen, körperliche Unversehrtheit und freie PartnerInnenwahl aufgeklärt werden sollten.
Frau Katja Adler schilderte gegen Ende der Veranstaltung wie dringend der Diskurs zum „Kinderkopftuch“ in öffentlichen Bildungseinrichtungen geführt werden muss, auch fraktionsübergreifend. Bislang gab es keine intensive Debatte diesbezüglich im Bundestag. Politik und Gesellschaft seien verpflichtet, allen Kindern zu ermöglichen, später im Leben freie Entscheidungen zu treffen und sich zu selbstbewussten und selbstbestimmten Frauen entwickeln zu können. Der Kinderschutz steht daher für sie im Vordergrund. Gesa Birkmann beendet die Veranstaltung mit einem Appell an die PolitikerInnen, die Botschaft über das „Kinderkopftuch“ in ihre jeweiligen Parlamente zu tragen und die Debatte zum Mädchenschutz zu beginnen.
Mehr Informationen zu unserer Arbeit:
Ayse hat den deutschsprachigen Blog Vaveyla gegründet, der Betroffenen die Möglichkeit beitet, sich über ihre Zweifel und Ängste austauschen zu können. Sie können auch ihre eigene Geschichte erzählen. Bei Instragram unter vaveyla-platform zu finden.
„Meine Kindheit war vorbei, als ich begann den Hijab zu tragen“ – Beeinflussung im Internet