Frauenrechtliche Lage in Indien: Kluft zwischen Gesetzesreformen und sozialer Praxis

Die Lage der Frauen in Indien ist alarmierend. Obwohl das Land über eine demokratische Verfassung und eine Vielzahl von Schutzgesetzen verfügt, sind Millionen Frauen tagtäglich geschlechtsspezifischer Gewalt, Diskriminierung und Entrechtung ausgesetzt. Vergewaltigungen, häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und sogenannte Ehrenmorde oder Mitgiftmorde sind erschreckend häufig. Oft werden sie von Polizei, Justiz und Gesellschaft bagatellisiert oder ignoriert. Hinzu kommt für Frauen in Indien die wirtschaftliche Diskriminierung durch de facto eingeschränkte Zugänge zu Bildung und Einkommen schaffenden Tätigkeiten. Spiegelbildlich dafür ist, dass Indien auch im neusten Global Gender Gap Report (2024) nur Platz 129 von 146 belegt.
Vergewaltigung in der Ehe weiterhin keine Straftat
Zwar hat Indien in den letzten Jahren eine Reihe von Gesetzen zum Schutz von Frauen erlassen – darunter das Gesetz gegen häusliche Gewalt (2005), das Gesetz gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz (2013) sowie Verschärfungen im Sexualstrafrecht (2013). Doch die Umsetzung ist löchrig, Schutzmechanismen fehlen, und viele Frauen finden keine Anlaufstellen oder Unterstützung. Das im Juli 2024 in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch, das den zuvor geltenden Penal Code von 1860 ersetzt, sieht zwar hohe Strafen bis hin zum Todesurteil für Vergewaltigungen vor, allerdings nicht, wenn sie innerhalb der Ehe geschehen. Unter Artikel 63, Ausnahme 2 heißt es explizit:
„Geschlechtsverkehr oder sexuelle Handlungen eines Mannes mit seiner eigenen Frau, die nicht unter achtzehn Jahre alt ist, sind keine Vergewaltigung.“
(Originaltext englisch, Übersetzung TDF)
Innerhalb Indiens rückt der frauenrechtliche Kampf gegen die Straffreiheit der Vergewaltigung in der Ehe immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Auch mit juristischen Mitteln wird in aktuellen Fällen vor dem Obersten Strafgerichtshof in Indien versucht, gegen diese Gesetzeslage vorzugehen. National wie international argumentieren JuristInnen, AktivistInnen und Organisationen bereits seit Jahren, dass diese Gesetzeslage mit den Grundrechten von Frauen auf Gleichheit, Würde und körperliche Autonomie – wie auch in der indischen Verfassung festgelegt – unvereinbar sei. Doch auch die neuste Strafrechtsreform zeigt deutlich: Seitens der indischen Regierung wird der Schutz der Ehe – als patriarchales Machtsystem – weiterhin an erster Stelle und vor den Schutz gewaltbetroffener Frauen gestellt. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt innerhalb der Ehe nur selten zur Anzeige gebracht werden.
Zudem sind in Indien Zwangsverheiratungen und Frühehen ebenfalls weit verbreitet, obwohl laut indischer Gesetzgebung beides verboten ist. Besonders jugendliche Mädchen sind gefährdet. Sie verlieren häufig ihre Schulbildung, geraten in frühe Mutterschaft und bleiben ökonomisch abhängig. Hinzu kommt ein tief verankertes gesellschaftliches Problem: die Abwertung weiblichen Lebens. Trotz eines Verbots geschlechtsselektiver Abtreibungen ist die gezielte Abtreibung weiblicher Föten in vielen Bundesstaaten weiterhin Realität. Mädchen gelten oft als Belastung, Jungen als Zukunftsinvestition – mit dramatischen Folgen für das demografische Gleichgewicht und das Selbstwertgefühl ganzer Generationen.
Ein frauenrechtlicher Fortschritt ist hingegen die 2023 beschlossene Verfassungsreform, die eine Frauenquote von 33 % im nationalen Parlament vorsieht. Doch politische Repräsentation allein reicht nicht aus, solange die Strukturen, in denen Frauen leben, sie täglich bedrohen oder marginalisieren.
Situation von Frauen in Telangana: BHUMIKA als Anker für gewaltbetroffene Frauen
Besonders deutlich zeigt sich die Kluft zwischen Gesetz und Lebensrealität im Bundesstaat Telangana, wo die Organisation BHUMIKA tätig ist und mit Unterstützung von TERRE DES FEMMES seit 2017 ein Beratungszentrum für Frauen – das an die lokale Frauenpolizeistation in Karimnagar angegliedert ist – betreibt. Dort nahm geschlechtsspezifische Gewalt im Jahr 2024 dramatisch zu – allein 2.945 Vergewaltigungsfälle wurden gemeldet und damit 28,94 % mehr als das Jahr zuvor. In über 99 % der Fälle kamen die TäterInnen aus dem persönlichen Umfeld der Betroffenen. Es handelt sich also nicht um anonyme Gewalt, sondern um Übergriffe durch Verwandte, NachbarnInnen, Bekannte. Der Großteil der Betroffenen ist zudem minderjährig.
Zwar wurden Initiativen wie die Spezialeinheiten der Polizei zur Prävention von Belästigung im öffentlichen Raum („SHE Teams“) ins Leben gerufen, doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Viele Betroffene erhalten keine schnelle oder angemessene Hilfe. Verfahren sind langwierig oder scheitern, TäterInnen bleiben unbehelligt. So wurde beispielsweise im Mai (2025) ein zuvor wegen Vergewaltigung verurteilter Mann vom Obersten Gerichtshof von Telenagana freigesprochen, als sich herausstellte, dass dieser mit der Betroffenen verheiratet war.

Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum
Darüber hinaus zeigt sich immer wieder, wie unsicher auch öffentliche Räume weiterhin für Frauen sind. Erst im März wurde eine 30-jährige Frau in der Nähe eines Tempels in Urukondapeta (Bundesstaat Telangana) von sieben Männern brutal vergewaltigt. Auch wenn die Polizei in diesem Fall schnell reagierte und die Verdächtigen festgenommen werden konnten, spiegelt auch dieser Fall die gesellschaftlich tief verankerten Probleme im Hinblick auf den Schutz von Frauen und Mädchen wider. Trotz Gesetzesinitiativen, trotz Reformen – solange Gewalt gegen Frauen als privates Problem betrachtet wird und nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, wird sich an der realen Gefahr für Frauen in Indien wenig ändern. Der Schutz weiblicher Autonomie darf nicht an Gesetzen scheitern, sondern muss im Bewusstsein und im Handeln von Staat und Gesellschaft verankert sein.
Diesem Ziel hat sich TERRE DES FEMMES - Partnerorganisation BHUMIKA verschrieben. Täglich setzten sich BHUMIKAs Mitarbeiterinnen unter anderem mit psychosozialer Unterstützung, rechtlicher Beratung und wirtschaftlichem Empowerment für den Schutz und Perspektiven von Frauen und Mädchen im südindischen Bundesstaat Telangana ein. Die Nachfrage nach Unterstützung ist enorm hoch: Allein im Jahr 2024 führte BHUMIKA in der von TDF unterstützen Beratungsstelle in Karminagar über 1.600 Beratungssitzungen durch und bot dadurch gewaltbetroffenen Frauen dringend benötigte psychologische Unterstützung und rechtliche Beratung.
Die Herausforderungen bleiben groß – doch mithilfe Ihrer Unterstützung kann der Einsatz von BHUMIKA im Leben vieler Frauen konkrete Veränderungen bewirken!
Stand 06/25