• 01.10.2024

Gleichberechtigtes Klassenzimmer? Wie das „Kinderkopftuch“ Druck ausübt

Eindrücke vom 6. Netzwerktreffen für Lehrkräfte und Schulsozialarbeit

Am 24.09.2024 kamen wieder Lehrkräfte und SchulsozialarbeiterInnen aus über elf Bundesländern zum digitalen 6. Lehrernetzwerktreffen zusammen, um sich über das Thema „Kinderkopftuch“ an Schulen zu informieren, zu diskutieren und zu vernetzen. Über 110 Personen aus dem pädagogischen Bereich hatten sich angemeldet.

Vorstellung der TERRE DES FEMMES Umfrageergebnisse

Zu Beginn der Veranstaltung stellte Stephanie Walter, Referentin für Integration und Gleichberechtigung bei TERRE DES FEMMES, die Umfrageergebnisse der im Frühjahr 2024 durchgeführten 2. bundesweiten Umfrage zum „Kinderkopftuch“ an Schulen unter pädagogischem Fachpersonal vor.

Mädchen werden auf das „Kinderkopftuch“ reduziert

Kern der Veranstaltung war der Erfahrungsbericht der Studentin und Bloggerin Ayse. Sie schilderte, wie mit dem Anlegen des sogenannten Kinderkopftuchs mit neun Jahren, ein großer religiöse Druck aufkam. Ausgelöst auch durch die Erwartung, die muslimische community zu repräsentieren. Das „Kinderkopftuch“ wurde für viele Jahre ein großer und bestimmender Teil ihrer Identität. Fragen der Lehrkräfte, ob sie denn gezwungen werde, das „Kinderkopftuch zu tragen, haben dazu geführt, dass sie sich noch mehr von der Gesellschaft entfernt gefühlt habe. Ebenfalls verstärkte sich das Misstrauen gegenüber Menschen außerhalb der muslimischen community. Zu groß war die Angst, ein negatives Licht auf ihre community zu werfen. Ayse berichtete weiter, dass selbst wenn ihr bewusst gewesen wäre, dass sie das „Kinderkopftuch“ nicht freiwillig trägt, es Lehrkräften nicht erzählt hätte. Als Teenagerin war sie überzeugt, völlig freiwillig und ohne Druck das „Kinderkopftuch“ zu tragen. Erst später wurde ihr bewusst, dass sie diese Entscheidung nicht selbst getroffen, sondern bereits früh die Erwartungen internalisiert hatte.

Das ist ein großer, zu großer, Druck für ein Mädchen mit neun Jahren. Mit dem Tragen des „Kinderkopftuchs“ kam auch die Frühsexualisierung ihres Körpers hinzu. Aussagen ihres Umfelds wie  „der Körper einer Frau ist wie eine Perle, die von einer Muschel beschützt werden muss" oder dass das Zeigen einer Haarsträhne mit 80 Jahren Hölle gleichgesetzt wurde, machten ihr Angst. Ihr Körper wurde mit einem Lolli verglichen. Wenn der Lolli ohne Verpackung sei, werde er beschmutzt und von Ameisen befallen. Das Bild macht deutlich, dass Mädchen ohne „Kinderkopftuch“ als „beschmutzt“ und als „unehrbar“ gelten können. Denn durch patriarchale und kulturell-religiöse Vorstellungen gibt es eine Unterscheidung in „ehrbare“ und „nicht-ehrbare“ Mädchen. Das „Kinderkopftuch“ ist Ausdruck dieser Vorstellungen: Mädchen, die das „Kinderkopftuch“ tragen, sind „ehrbare“ Mädchen.

Mädchen sollen still sein

TeilnehmerInnen konnten die Schilderungen von Ayse bestätigen. Eine Schulsozialpädagogin an einer Grundschule berichtete von ihren Gesprächen mit Mädchen, bevor sie anfingen das „Kinderkopftuch“ zu tragen. Aus diesen Gesprächen ging hervor, wie groß die Ambivalenz gegenüber dem „Kinderkopftuch“ und die Angst der Mädchen ist, es nicht immer zu schaffen. Die Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen, die an die Mädchen gestellt werden, sind hoch. Ayse erzählte von ihrer Erziehung, dass sie sich als Mädchen habe still verhalten müssen und auch nicht hätte laut lachen dürfen. Innerhalb ihrer muslimischen community gäbe es keinen Raum für Zweifel. Äußerte sie selbst Zweifel zum „Kinderkopftuch“, wurde ihr gesagt, dass ihr Glaube zu schwach sei und es "Einflüsterungen des Teufels" wären. Das „Kinderkopftuch“ ist immer auch Ausdruck von patriarchal-autoritären Erziehungsmethoden und vorgeformten Geschlechterrollen. Mädchen sollen früh an Frömmigkeit und Sittsamkeit gewöhnt werden. Eltern besitzen zwar das Recht ihre Kinder nach religiösen oder vermeintlich religiösen Werten zu erziehen und zu formen, allerdings muss dies auch zum Wohle des Kindes erfolgen.

Referentin Stephanie Walter fügte hinzu, dass eine Lehrerin in einem Interview mit TERRE DES FEMMES darüber berichtet, dass manche Mädchen in Tränen ausbrechen, weil sie nicht wissen, wie sie sich für den Schwimmunterricht umziehen sollen, ohne ihr Haar zu zeigen. Ayse äußerte Verständnis für die Mädchen. Als Kind wurde ihr selbst oft gesagt, dass sie ihr Haar auch keinen ungläubigen Mädchen und Frauen zeigen soll.

Raum für Austausch von Unsicherheiten gewünscht

Am Ende der Frage- und Diskussionsrunde wurde das Stimmungsbild wiederholt, welches bereits zum Beginn und vor dem Programmpunkt „Umfrageergebnisse“ erstellt wurde. Bei der ersten Frage „Würde eine Regelung des „Kinderkopftuchs“ bis zum 14. Lebensjahr in öffentlichen Bildungseinrichtungen Ihre Arbeit erleichtern?“ stiegen die Zutimmungen von 59 auf 69 Prozent. Bei der zweiten Frage „Sehen Sie in einer Regelung des „Kinderkopftuchs“ in öffentlichen Bildungseinrichtungen einen Vorteil für die gleichberechtigte und freie Entwicklung der Mädchen?“ von 76 auf 95 Prozent. Schlussfolgernd kann man aus den gestiegenen Zustimmungen der TeilnehmerInnen herauslesen, dass mehr Informationen und Betroffenenperspektive für das Thema „Kinderkopftuch“ in Schulen dringend nötig sind.

Zum Abschluss des Treffens gab es die Möglichkeit zum freien Austausch und zur Vernetzung. Die Anwesenden waren sich einig, dass es einer größeren Aufklärung für pädagogisches Fachpersonal bedarf, um auf Gespräche mit SchülerInnen und Eltern besser vorbereitet zu sein und mehr Infomaterial für SchülerInnen und Eltern über das Thema bereitgestellt werden muss. Eine Lehrerin äußerte, dass es für Lehrkräfte und SchülerInnen hilfreich wäre, wenn Frauen wie Ayse an Schulen kämen. Mädchen hätten somit eine Ansprechpartnerin, mit der sie über ihre Ängste und Unsicherheiten sprechen könnten.

Wenn Sie als Lehrkraft Interesse an dem Netzwerktreffen haben, schicken Sie uns gerne eine E-Mail an netzwerk@frauenrechte.de

Mehr zu Ayses Erfahrungen mit dem „Kinderkopftuch“ finden Sie hier.

Ayse hat den deutschsprachigen Blog Vaveyla gegründet, der Betroffenen die Möglichkeit beitet, sich über ihre Zweifel und Ängste austauschen zu können. Sie können auch ihre eigene Geschichte erzählen. Bei Instragram unter vaveyla-platform zu finden.

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