• 28.07.2025

„Aber es sind doch nicht alle Männer Täter!“ – Hinter den Kulissen der Loverboy-Webinare mit TDF-Referentin Sophia Dykmann

Über Abwehrreaktionen, Machtverhältnisse und die Notwendigkeit, über geschlechtsspezifische Gewalt zu sprechen

Hintergrund:  Die Loverboy-Methode ist eine Form des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung, bei der überwiegend männliche Täter überwiegend Mädchen und junge Frauen durch vorgetäuschte Liebesbeziehungen emotional abhängig machen und isolieren. Anschließend zwingen sie die Betroffenen zur Prostitution, wobei diese ihre Situation aus Angst und Scham oftmals nicht offenlegen (können). 2023 waren 95,1 % der beim BKA registrierten Betroffenen von Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung weiblich; 21,3 % aller Betroffenen wurden durch die Loverboy-Methode rekrutiert.

Neben anderen Bildungsformaten hat TERRE DES FEMMES e.V. ein Aufklärungsprogramm in Form von Webinaren entwickelt, um Jugendliche bundesweit über die Loverboy-Methode zu informieren. Ziel davon ist ihre Stärkung, sowohl für den eigenen Schutz als auch für den ihrer Mitmenschen. Gleichzeitig soll präventiv verhindert werden, dass Jungen zu Tätern werden, und die Solidarität mit Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt wie der Loverboy-Methode gefördert werden.

Referentin Sophia Dykmann berichtet ihre Erfahrungen aus den Webinaren

Was sind die ersten Reaktionen und Fragen der SchülerInnen, wenn das Webinar startet?

Bevor wir tiefer in das Thema einsteigen, zeigen wir den SchülerInnen ein kurzes Video der light-up Bewegung, in dem die Loverboy-Methode künstlerisch dargestellt wird. Häufig sind sie davon bestürzt und können kaum glauben, dass solche Fälle nicht nur in Filmen, sondern tatsächlich in der Realität passieren. Viele fragen sich, warum Erwachsene so etwas tun, oder warum Betroffene bleiben. Wenn wir über die ausgelösten Gefühle sprechen, zeigen sich klare Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Während Jungs sich nach dem Video oft „neutral“ oder „unverändert“ fühlen, berichten vor allem Mädchen und TIN-Jugendliche (trans, inter und nicht-binäre Personen) von Ekel, Ohnmacht oder Schock. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass sie sich eher emotional mit den Betroffenen identifizieren, während die Jungs oft noch mehr Distanz zum Thema haben.

Wie bewusst sind sich die SchülerInnen der Gefahren im Netz und haben sie schon einmal von digitaler Manipulation/Gewalt gehört?

Viele Jugendliche machen online bereits negative Erfahrungen mit Gewalt. Meistens berichten sie von Beleidigungen oder Mobbing über Soziale Medien oder Online-Spiele. In fast jeder Klasse gibt es aber auch SchülerInnen, die bei der Frage zu negativen Erfahrungen berichten, dass sie von Fremden, häufig Erwachsenen, unangenehm sexuell angeschrieben wurden oder ohne Einverständnis Nacktbilder geschickt bekommen haben. Und davon sind alle Geschlechter betroffen. Ihnen ist bewusst, dass solche Nachrichten nicht in Ordnung sind. Allerdings kennen sie häufig die Risiken nicht, die hinter unangenehmen digitalen Interaktionen stehen können. Die wenigsten kennen Prinzipien wie die Loverboy-Methode oder Cybergrooming und viele hielten das nicht für real existierende Gefahren. Oft wird uns entgegnet, dass ja nichts Schlimmeres (also physisch-analoges) passiert sei. Die psychischen realen Folgen von nicht-physischer, digitaler Gewalt werden massiv unterschätzt. Damit meine ich beispielsweise das ungefragte Zusenden von Nacktbildern, sexuelle Belästigung in Kommentarspalten oder den Aufbau emotionaler Abhängigkeiten durch Loverboys via Chats. Solche Erfahrungen können bei Betroffenen schwerwiegende Folgen haben: von einem verminderten Selbstwertgefühl über nachlassende schulische Leistungen bis hin zu selbstverletzendem Verhalten, Depression, Suizidgedanken und -versuchen.

Was tun die SchülerInnen bereits, um sich zu schützen? Oder sind sie bereits betroffen und wie gehen sie damit um?

Die SchülerInnen, die von eigener Betroffenheit berichten, sagen häufig, dass sie die Person, die sie kontaktiert oder öffentlich belästigt, blockieren, melden und den Chat löschen. Einige wenden sich mit solchen Nachrichten auch an ihre Erziehungspersonen. Über die rechtliche Lage sowie konkrete Handlungs-, Beratungs- und Schutzmöglichkeiten existiert jedoch wenig Bewusstsein; unter den SchülerInnen, aber auch bei dem Lehrpersonal und bei Erziehungspersonen besteht enormer Fortbildungsbedarf zum Umgang mit digitaler (geschlechtsspezifischer) Gewalt.

Was beschäftigt die SchülerInnen während des Webinars? Welche Fragen/Narrative wiederholen sich in den Webinaren?

SchülerInnen zeigen regelmäßig ein starkes Unverständnis dafür, wie man überhaupt in eine solche Situation geraten kann. Sie fragen zum Beispiel, warum die Betroffenen den Mann nicht einfach verlassen, wenn die Beziehung nicht mehr gut für sie ist. Solche Kommentare greifen wir auf, um zu erklären, wie psychische Gewalt funktioniert (etwa durch gezielte Manipulation wie Gaslighting) und wie Täter absichtlich emotionale Abhängigkeiten schaffen, um die Betroffenen auszubeuten. Gleichzeitig sprechen wir darüber, was Betroffene brauchen könnten, um sich aus solchen Situationen zu lösen: keine Verurteilung, sondern Solidarität und liebevoll angebotene Unterstützung.

Gerade von männlichen Schülern erlebe ich in den Webinaren häufig Widerstand gegenüber der Vorstellung, dass Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung, ebenso wie andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt, Ausdruck patriarchaler Strukturen ist und folglich überwiegend Männer Täter sind. Deutlich wird das durch Aussagen wie „Aber es sind doch nicht alle Männer Täter!“, was wir nie behaupten, oder durch persistente Fragen, wann Frauen auch Täterinnen sind. Wissenschaftliche Daten, die die Benachteiligung von Frauen und Mädchen weltweit und in Deutschland belegen, werden angezweifelt. Hier zeigt sich ein bekanntes und normales Phänomen: Menschen fühlen sich häufig persönlich angegriffen, wenn Gruppen, mit denen sie sich identifizieren, als Teil eines gewaltvollen oder diskriminierenden Systems benannt werden. Diese Reaktion ist Teil eines wichtigen Lernprozesses, nämlich der Auseinandersetzung mit struktureller Gewalt und der eigenen Position innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Es ist toll, dass wir die Möglichkeit haben, diese Prozesse bei Jugendlichen mit anzustoßen und voranzubringen!

Außerdem: immer wieder fragen SchülerInnen, warum Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Das Unverständnis gegenüber den TäterInnen begegnet mir in fast jedem Webinar, und von vielen der anwesenden SchülerInnen. Ich werte das als ein ermutigendes Signal im Hinblick auf die heranwachsende Generation, besonders vor dem Hintergrund zunehmender antifeministischer Tendenzen und gesellschaftlicher Akzeptanz rechter Narrative. Es gibt Anlass zur Hoffnung, dass junge Menschen diesen Entwicklungen mit Reflexionsfähigkeit und kritischem Bewusstsein entgegentreten.

Erlebst du bei den SchülerInnen Ablehnung, Widerstand, Mobbing, Hatespeech untereinander, gegen die Lehrkraft, dich?

Über den Widerstand der männlichen Schüler habe ich ja bereits gesprochen. Untereinander oder gegen die Lehrkraft erlebe ich kein Mobbing, aber immer wieder wird berichtet, dass Nacktfotos in Klassenchats kursieren und MitschülerInnen z.B. auf TikTok oder Instagram gemobbt und durch HateSpeech angegriffen werden. Wir geben den SchülerInnen Methoden an die Hand, damit umzugehen: im #HateSpeech Webinar beispielsweise üben wir Gegenrede mit dem SchülerInnen und erklären, wie man Betroffene im digitalen Raum unterstützen kann, z.B. durch CheckIns per Direktnachricht, das Melden gewaltvoller Kommentare oder Gegenrede in Kommentarspalten, in denen z.B. Sexismus reproduziert wird. Es ist schon vorgekommen, dass ich innerhalb der anonymen Umfragen im Webinar sexistisch beleidigt wurde. Kommentare wie „du bist hässlich“, „ich wünsche Ihnen noch einen schönen Fot***-Tag“, oder „ich komme heute Nacht in dein Bett und fasse dich an“ habe ich dann lesen müssen. Das hatte eine intensive Auseinandersetzung an der Schule zur Folge sowie eine schriftliche Entschuldigung der Klasse mir gegenüber. Das war nicht schön, und gleichzeitig glaube ich, dass die Entschuldigung wirklich ernst gemeint war und dadurch ein Umdenken in der Klasse stattfand.

Was wünschen sich die SchülerInnen?

Insbesondere Betroffene von sexualisierter Gewalt und Beleidigung ziehen sich oft aus online-Räumen zurück, was zu Ausschluss und Benachteiligung führen kann (z.B. was Gruppenzugehörigkeiten und Zugang zu Informationen angeht). Sie wünschen sich ganz einfach, online sicher unterwegs sein und die Vorzüge des Internets angstfrei nutzen zu können.

Was sind die schönsten Momente und Erfolgsmomente?

Es ist sehr ermutigend, zu merken, wenn die SchülerInnen wirklich am Thema interessiert sind, mehr dazu erfahren wollen und sich aktiv beteiligen. Ein Schüler hat sich kürzlich wirklich alle Details des Webinars gemerkt und zum Abschluss nochmal wiedergegeben. Besonders schön ist es, die Gedanken und Ideen der SchülerInnen zu hören, wenn sie in Gruppenarbeiten selbst etwas erarbeiten und vorstellen. Zum Beispiel, weshalb Jugendliche von Loverboys betroffen sind, wie man sich schützen kann oder was man tun kann, wenn man selbst betroffen ist. Wir bekommen häufig differenzierte, empathische Eindrücke der SchülerInnen und ich habe das Gefühl, die Solidarität mit Betroffenen wird durch die Auseinandersetzung mit dem Thema verstärkt aktiviert. Außerdem freue ich mich, am Ende des Webinars in der Auswertung zu lesen, dass sich die SchülerInnen nun besser informiert und sicherer im Umgang mit bedrohlichen Situationen im Internet fühlen. Denn das ist ja das Ziel unserer Bildungsarbeit: dass sich die Jugendlichen sicherer fühlen, schützen können und digitale Räume selbstbewusst, selbstbestimmt und frei von Gewalt für sich erschließen und nutzen können.  Es macht wahnsinnig Spaß, dazu beitragen zu dürfen!

Danke für die Einblicke in deine wichtige Arbeit, Sophia!

nach oben
Jetzt spenden