Interview mit TDF-Referentin Johanna Wiest zur Fahnenaktion 2025

#WegAusDerGewalt
Im Gespräch mit TDF-Referentin für Häusliche und Sexualisierte Gewalt, Johanna Wiest, berichtet diese u.a., was passiert, wenn es kein Sicherheitsnetz gibt und warum das für Betroffene tödlich enden kann.
Danke Johanna, dass du uns hier Einblick in deine wichtig Arbeit gibst. Zu den Workshops des Referats.
Frage: Dieses Jahr ist das Thema der Fahnenaktion Partnerschaftsgewalt. Es geht darum, Frauen zu unterstützen den #WegAusDerGewalt gehen zu können. Denn diesen Weg gibt es oft nicht. Woran scheitert das?
Antwort: Für Betroffene von Partnerschaftsgewalt ist es meist sehr schwer sich aus den komplexen Dynamiken der gewaltvollen Beziehung zu befreien. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es mehrere Anläufe und viele Jahre braucht die Trennung endgültig vollzogen ist. Dafür gibt es viele Gründe, u.a. finanzielle Abhängigkeit, gemeinsame Kinder, die Hoffnung, dass sich doch noch etwas ändert, aber auch die Angst vor dem was passiert, wenn Betroffene versuchen sich dem gewalttätigen Partner zu entziehen. Denn in den meisten Fällen geht die Gewalt nach der Trennung weiter- die sogenannte Nachtrennungsgewalt. Scham- und Schuldgefühle erschweren es den Frauen sich Unterstützung zu suchen. Von außen bleibt die Gewalt in vielen Fällen unsichtbar.
Wenn die Betroffenen sich dann aber Hilfe suchen, sehen sie sich oft mit einem System konfrontiert, das sie nicht schützt. Das Hilfesystem ist völlig überlastet. Frauenhäuser haben nicht genügend Plätze, bei Beratungsstellen mangelt es an Fachkräften und nirgendwo ist genügend Geld da. Aber auch unser Rechtssystem lässt Betroffene zu oft im Stich. In Deutschland werden nur etwa 12 Prozent der Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz strafrechtlich geahndet[1]. Der überwiegende Teil der Täter geht straffrei aus, selbst wenn die Frauen den Mut aufbringen sie anzuzeigen. Besonders unsichtbare Gewaltformen wie psychische und finanzielle Gewalt werden meist nicht anerkannt und selbst bei körperlicher und sexualisierter Gewalt reichen die Beweise oft nicht aus. Das liegt u.a. auch daran, dass selbst bei Polizei, Richterschaft und Staatsanwaltschaft kein ausreichendes Verständnis geschlechtsspezifischer Gewalt bzw. der komplexen Dynamiken von Partnerschaftsgewalt vorhanden ist. Auch gesellschaftliche Vorurteile und frauenfeindliche Mythen beeinflussen Sichtweisen und Vorgänge bei Institutionen und Behörden- so auch bei der Polizei und in den Gerichten. Das Signal, das die betroffenen Frauen leider häufig erhalten, wenn sie sich diesem System aussetzen, ist, dass die Gesellschaft die von ihnen erlebte Gewalt nicht wirklich ernst nimmt, abtut, oder sogar aktiv gegen sie verwendet. Das kann zum Beispiel bei der Regelung von Umgangs- und Sorgerechtsangelegenheiten der Fall sein, bei denen teilweise von Müttern ausgesprochene Gewaltvorwürfe gezielt gegen sie verwendet werden.
Frage: Zu deiner Erfahrung als Referentin: Inwiefern fehlt es gewaltbetroffenen Frauen an Unterstützung, um den Weg aus der Gewalt gehen zu können?
Antwort: Aus meiner Erfahrung fehlt es gewaltbetroffenen Frauen vor allem an einer systematischen und ganzheitlichen Unterstützung. Es sind nicht nur einzelne Lücken im Netz, die den Ausstieg erschweren, sondern oft eine Kombination verschiedener Faktoren. Ein erster, entscheidender Punkt ist der Gewaltschutz, der viel konsequenter und nachhaltiger sein muss. Dazu gehören Maßnahmen wie die elektronische Fußfessel, die eine bessere Überwachung des Täters ermöglicht, oder die Aussetzung des Umgangsrechts bei gewalttätigen Vätern. Denn das Recht auf Umgang darf nicht über die Sicherheit der Frau und des Kindes gestellt werden. Es braucht außerdem echte Sanktionen bei der Missachtung von Gewaltschutzmaßnahmen – auch hier sind die aktuellen rechtlichen Möglichkeiten oft zu schwach, um den nötigen Druck auszuüben. Die Einhaltung von Kontakt- und Annäherungsverboten durch den Gewalttäter wird beispielsweise nicht überwacht. Wichtig ist außerdem die Gewährleistung eines traumasensiblen Umgangs mit Betroffenen bei allen Institutionen. Denn die diskriminierenden und retraumatisierenden Erfahrungen, die Betroffene auf ihrem Weg aus der Gewalt viel zu oft bei Institutionen und Behörden machen müssen, halten Betroffene davon ab sich an die Stellen zu wenden, die ihnen eigentlich helfen müssten. Dadurch werden wiederum weniger Fälle angezeigt und noch weniger Täter zur Rechenschaft gezogen.
Darüber hinaus müssen barrierefreie Zugänge zu bestehenden Schutzmöglichkeiten geschaffen werden. Es kann nicht sein, dass Frauen, die schon durch die Gewalt in ihrer Partnerschaft stark belastet sind, zusätzlich noch mit langen, komplizierten Anträgen und bürokratischen Hürden kämpfen müssen. Auch die Ausweitung der Frauenhauskapazitäten ist dringend notwendig, denn die Plätze sind oft knapp, was dazu führt, dass sich Betroffene teilweise zwischen Wohnungslosigkeit und Verbleib beim Gewalttäter entscheiden müssen.

Frage: Was bedeutet es für Frauen, die Gewalt erleben, nicht aufgefangen zu werden, sondern immer wieder durch das Netz zu fallen, das sie eigentlich bräuchten, um sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen?
Antwort: Für Frauen, die Partnerschaftsgewalt erleben, ist das besonders belastend. Es kann sogar zur Retraumatisierung kommen, weil sich Erfahrungen wiederholen, die sie aus der gewaltvollen Beziehung kennen: zB. Kontrollverlust, Machtausübung, Isolation, nicht gesehen oder ernst genommen zu werden. Viele zweifeln infolge von Täterstrategien wie Manipulation bzw. Gaslighting ohnehin schon an ihrer eigenen Wahrnehmung. Wenn ihre Gewalterfahrung dann von Personen in Machtpositionen angezweifelt wird, vertieft das die Ohnmacht und erschwert den Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Leider empfinden viele gewaltbetroffene Frauen, dass der Kontakt mit Institutionen und Behörden, die sie eigentlich schützen sollten, ihre Situation noch verschlimmert. Sie verlieren den Glauben, dass Hilfe überhaupt möglich ist.
Frauen erstatten keine Anzeige, weil sie wissen, dass sie fast nur verlieren können. Laut einer Studie des Bundeskriminalamtes von 2020 werden nur knapp vier Prozent der Fälle von körperlicher Gewalt in Partnerschaften angezeigt – bei sexualisierter Gewalt in Partnerschaften sind es sogar nur 0,6 Prozent[2].
Wenn das Sicherheitsnetz nicht oder zu spät greift, kann das für die Betroffenen tödlich enden. Femizide, also frauenfeindliche Tötungen, sind keine „Einzelfälle“, sondern oft die logische Eskalation von Gewalt, die schon lange vorher erkennbar war. Sie sind fast immer durch vorherige Gewalttaten angekündigt. Klare Warnzeichen werden aber im System oft nicht rechtzeitig erkannt. Ein funktionierendes Sicherheitsnetz könnte solche Morde verhindern.
Frage: Wie schaffen wir es, dass sich die Institutionen besser verbinden, um ein echtes Sicherheitsnetz zu knüpfen?
Antwort: Um ein echtes Sicherheitsnetz für gewaltbetroffene Frauen zu knüpfen, müssen sich die Institutionen viel stärker miteinander vernetzen. Es reicht nicht, wenn jede Institution isoliert arbeitet. Ein wichtiger Schritt ist die Institutionalisierung von interdisziplinären Fallkonferenzen, bei denen verschiedene Akteure – etwa Polizei, Justiz, SozialarbeiterInnen und Beratungsstellen – gemeinsam Lösungen entwickeln, die aufeinander abgestimmt sind.
Aber die Zusammenarbeit allein reicht nicht aus. Aufklärungs- und Bildungsarbeit innerhalb der Institutionen ist genauso entscheidend. Es muss sichergestellt werden, dass alle Fachkräfte über die Dynamiken von Partnerschaftsgewalt und die Auswirkungen auf die Betroffenen gut informiert sind.
Zudem gehört zu einem echten Gewaltschutz auch die Prävention, die verhindert, dass Gewalt überhaupt erst entsteht. Dazu gehören zB. verpflichtende Anti-Gewalt-Programme für gewaltauffällige Männer. (Potenzielle) Täter müssen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Aber auch Primärprävention an Schulen ist unerlässlich. Wenn Kinder schon früh lernen mit ihren Emotionen umzugehen, einander respektvoll zu behandeln und gesunde Beziehungen einzugehen, könnte vieles verhindert werden. Das wäre auch ökonomisch sinnvoll. Denn die gesellschaftlichen Folgekosten von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen belaufen sich laut einer Studie des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE) für Deutschland auf ca. 54 Milliarden Euro pro Jahr.

Frage: Wie kann jede und jeder einzelne Teil des Sicherheitsnetzes werden und sich mit gewaltbetroffenen Frauen solidarisch zeigen und ihnen Hilfe anbieten?
Antwort: Jede und jeder von uns kann Teil des Sicherheitsnetzes werden, indem wir aktive Solidarität mit gewaltbetroffenen Frauen zeigen und sie unterstützen. Wichtig ist erstmal den Betroffenen zuzuhören und ihnen zu glauben. Dabei sollte man Vorwürfe unbedingt vermeiden. Schuld ist immer der Täter. Es sollte außerdem kein Druck auf die Betroffenen ausgeübt werden. Wie und wann sie gehen, ist allein ihre Entscheidung. Man kann dabei aber praktische Unterstützung anbieten – sei es bei der Antragsstellung für Schutzmaßnahmen, der Begleitung zu Terminen bei Polizei oder Gericht oder auch bei der Suche nach sicheren Unterkünften. Diese Unterstützung kann den Unterschied machen, weil sie den Betroffenen zeigt, dass sie nicht allein sind, und ihnen den Zugang zu rechtlichen und institutionellen Ressourcen erleichtert.
Wir müssen außerdem Partnerschaftsgewalt als gesellschaftliches Thema anzuerkennen und umfassend darüber aufklären. Es darf keine Tabus mehr geben, wenn es um Gewalt in Beziehungen geht. Jeder und jede von uns kann in seinem/ihrem Umfeld das Bewusstsein für dieses Thema schärfen, indem wir uns aktiv damit auseinandersetzen und darüber sprechen. Wenn wir nicht wegsehen, sondern uns gegen frauenfeindliche Strukturen entgegenstellen, schaffen wir eine Atmosphäre, in der es für gewaltbetroffene Frauen leichter wird, Hilfe anzunehmen, ohne sich stigmatisiert oder isoliert zu fühlen.
Frage: Kannst du uns erklären, warum für Betroffene Zeichen der Verbundenheit so wichtig sind und warum unsere Gesellschaft insgesamt davon profitiert?
Solidarität und das Gefühl der Verbundenheit hat eine unglaublich starke Wirkung, vor allem für Menschen, die Partnerschaftsgewalt erfahren haben. Wenn Betroffene wissen, dass sie nicht allein sind, dass Menschen an ihrer Seite stehen, gibt es ihnen nicht nur emotionalen Rückhalt, sondern auch eine stärkende Hoffnung. Solidarität bedeutet, sichtbar zu machen, dass wir als Gesellschaft Verantwortung übernehmen und uns nicht von Gewalt abwenden. Sie gibt den betroffenen Frauen das Gefühl, dass ihre Situation nicht unsichtbar bleibt und dass es Menschen gibt, die sich für ihren Schutz und ihr Wohl einsetzen.
In diesem Zusammenhang spielt das blaue TERRE DES FEMMES-Soli-Bändchen, das erstmals im Rahmen der Fahnenaktion erhältlich ist (mehr dazu in Kürze), eine wichtige Rolle. Es ist nicht nur ein symbolisches Zeichen, sondern ein sichtbares Bekenntnis zur Solidarität. Dieses Bändchen macht deutlich, dass wir uns als Gesellschaft gemeinsam gegen Partnerschaftsgewalt stellen. Es ist eine Einladung an alle, sich zu verbünden und einen klaren Standpunkt gegen Gewalt zu beziehen.
Frage: Warum ist es so wichtig, dass Frauen die Fäden in der Hand halten?
Antwort: Es ist entscheidend, dass Frauen die Fäden in der Hand halten, weil es ihnen ermöglicht, Selbstwirksamkeit zu erfahren und das Gefühl der Machtlosigkeit zu überwinden. Gewalt hat oft das Ziel, Frauen zu entmündigen, ihre Autonomie zu zerstören und ihnen das Gefühl zu geben, keine Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben. Wenn Frauen die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu treffen und aktiv eingebunden werden, können sie wieder Vertrauen in ihre eigene Stärke gewinnen. Sie erleben, dass sie die Kontrolle zurückgewinnen können, dass ihre Stimme gehört wird und dass ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen.
[1] www.frauenhauskoordinierung.de/fileadmin/redakteure/Publikationen/Stellungnahmen/2024-12-11_FHK_Stllgn_GesetzE_BMJ_GewSchG_Fussfessel_Taeterarbeit_fin.pdf
[2] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Forschung/ForschungsprojekteUndErgebnisse/Dunkelfeldforschung/SKiD/Ergebnisse/Ergebnisse_node.html