Rückblick Podiumsdiskussion „Mehr als nur eine Frau"

Podiumsdiskussion mit Sandra Maischberger, Matthias Deiß, Prof. Jan Ilhan Kizilhan, Anna und Myria Böhmecke
20 Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü – Der Kampf um ein selbstbestimmtes Leben und die anhaltende Relevanz von Präventionsarbeit zu Gewalt im Namen der Ehre
Hatun Sürücü wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen, frei von den strengen Erwartungen ihrer Familie. Doch dieser Wunsch kostete sie vor 20 Jahren das Leben – ihr eigener Bruder erschoss sie auf offener Straße, weil sie die sogenannte Familienehre verletzt haben soll. Der Mord schockierte das ganze Land und führte zu einer Debatte über patriarchale Gewalt und soziale Kontrolle.
Auch zwei Jahrzehnte später bleiben diese Zwänge für viele Mädchen und Frauen Realität. TERRE DES FEMMES erinnerte mit einer Online-Podiumsdiskussion an den 20. Todestag Hatun Sürücüs und widmete sich der Frage, wie sich patriarchale Strukturen durchbrechen lassen und welche Präventionsmaßnahmen helfen können, Betroffene zu schützen und zu stärken. Die Veranstaltung, die am 30. Januar 2025 stattfand, wurde von rund 340 Teilnehmenden online verfolgt.

Unter dem Druck der Ehre: Die unsichtbaren Hürden für Betroffene
Die Diskussion wurde von Katie Gallus, Geographin und internationale Moderatorin, geleitet.
Anna, eine Influencerin, die selbst in einer streng patriarchalischen Familie aufwuchs, berichtete, wie das Konzept der „Ehre“ ihr gesamtes Leben bestimmte. „Keine westlichen Klamotten, keine Freundinnen und nur den Mann heiraten, den die Eltern bestimmen – das war die Erwartung. Gewalt war die Antwort, wenn ich mich widersetzte,“ schilderte sie. Mit 16 floh sie gemeinsam mit ihren Schwestern. Heute nutzt sie Social Media, um Frauen und Mädchen Mut zu machen und ihnen zu zeigen, dass ein selbstbestimmtes Leben möglich ist. Doch der soziale Druck innerhalb der betroffenen Communitys bleibt enorm. „Der Grund ist dieser Druck in den Communitys. Man macht sich gegenseitig Druck: Was denken die anderen, wie muss eine richtige Frau sein, wie ein richtiger Sohn? Dadurch entsteht auch Druck auf die Kinder: ‚Ihr müsst diese Person heiraten‘ oder ‚Ihr müsst das und das tun, damit niemand an der Ehre der Familie zweifelt.‘“
Auch die Journalistin und Filmproduzentin Sandra Maischberger schilderte die erschütternden Reaktionen auf ihren Film „Nur eine Frau“, der Hatun Sürücüs Geschichte erzählt. Viele Frauen berichteten ihr, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht und wegen ihres eigenen Weges den Kontakt zur Familie abgebrochen hätten. „Solche Geschichten zeigen, wie viele von patriarchalen Zwängen betroffen sind.“
Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe und Experte für transkulturelle Psychotraumatologie, betonte, dass patriarchale Strukturen und Gruppendynamiken in vielen Communitys seit Generationen unverändert bestehen. „Der Schutz der sogenannten ‚Ehre der Familie‘ wird oft höher bewertet als die Rechte des Einzelnen.“ Diese Werte seien tief verankert und würden sowohl von Männern als auch Frauen innerhalb der Familien aufrechterhalten und weitergegeben.
Dass diese Form der Gewalt auch in Deutschland Realität ist, betonte Matthias Deiß, stellvertretender Leiter des ARD-Hauptstadtstudios: „Viele sehen „Ehrenmorde“ als etwas an, das sie nicht betrifft. Doch Hatun Sürücüs Schicksal zeigt, dass es eine deutsche Realität ist, die uns alle angeht.“ Er kritisierte, dass sowohl Behörden als auch das soziale Umfeld die Tragweite dieser Gewaltform lange unterschätzt hätten. „Wir haben unser Buch deswegen auch „‚Ehren‘-Mord – ein deutsches Schicksal“ genannt, weil viele das Gefühl haben: ‚Das betrifft mich nicht, das sind Migranten.‘ Aber es betrifft uns alle doch.“
Besonders problematisch sei die weitreichende Signalwirkung solcher Taten, erklärte Deiß weiter: „Niemand, der sieht, was dort passiert, wird sich trauen diesen Weg zu gehen.“ Dies betreffe nicht nur die unmittelbare Familie, sondern auch das gesamte soziale Umfeld und schaffe eine Atmosphäre der Angst und Kontrolle, die persönliche Freiheiten massiv einschränke.
Myria Böhmecke, Referatsleiterin bei TERRE DES FEMMES, erklärte, dass viele Betroffene nicht wissen, an wen sie sich wenden können, und große Ängste vor den Konsequenzen haben. Schulen seien oft die einzigen Orte, die sie außerhalb ihrer Familie aufsuchen dürften. Allerdings seien Institutionen wie Schulen und Jugendämter häufig nicht ausreichend geschult und sensibilisiert, um frühzeitig zu reagieren und den Betroffenen wirksam zu helfen.
Mut und Unterstützung schaffen – Prävention als Ausweg aus patriarchalen Zwängen
Präventionsarbeit müsse auf mehreren Ebenen ansetzen – darin waren sich alle Gäste der Podiumsdiskussion einig. Eine zentrale Rolle dafür sei die Bildung, insbesondere für Frauen, so Prof. Kizilhan. Sie sei der Schlüssel zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Vor allem Präventionsarbeit müsse früh beginnen, bereits im Kindergarten und in der Schule, um Kindern alternative Lebensentwürfe und Möglichkeiten aufzuzeigen. Gleichzeitig sei es wichtig, den Dialog innerhalb der betroffenen Communitys zu fördern. Männer könnten als Multiplikatoren eine entscheidende Rolle übernehmen, indem sie bestehende Rollenbilder hinterfragen und alternative Vorstellungen von „Ehre“ und Männlichkeit entwickeln.
Neben Bildung und Dialog ist die Bedeutung starker Vorbilder nicht zu unterschätzen. Myria Böhmecke erklärte, „Es braucht starke Vorbilder, damit mehr Mädchen diesen Mut haben.“. Vorbilder können für viele Mädchen oft der erste Impuls sein, eigene Entscheidungen zu treffen und Hilfe zu suchen. Gleichzeitig müsse die Präventionsarbeit auf institutioneller Ebene verstärkt werden. Lehrkräfte und SozialarbeiterInnnen sollten geschult werden, um erste Warnsignale frühzeitig zu erkennen und schnell zu handeln. Erfolgreiche Projekte, wie die Arbeit mit Stadtteilmüttern oder Schulprojekte zu Zwangsverheiratung, könnten niedrigschwellige Zugänge zu betroffenen Communitys schaffen.
Matthias Deiß unterstrich, dass vielen Mädchen und Frauen oft gar nicht bewusst seien, welche Rechte und Unterstützungsmöglichkeiten ihnen zustehen. Es brauche niedrigschwellige Angebote, um jungen Mädchen Perspektiven und Rechte aufzuzeigen.
Auch Anna berichtete aus ihrer eigenen Erfahrung, wie wichtig Vorbilder und frühzeitige Unterstützung gewesen wären. Vor allem hätte sie sich gewünscht, dass Lehrkräfte die Warnsignale ihrer schwierigen Situation ernst genommen hätten. Heute erhält sie viele Nachrichten von Frauen, die sich in ähnlichen Lagen befinden. Auch wenn sie keine professionelle Hilfe anbietet, versucht sie, diese Frauen an Beratungsstellen weiterzuvermitteln. Sie sprach sich dafür aus, dass solche Beratungsstellen verstärkt auf Social Media präsent sein sollten, da dies für viele Betroffene oft der erste und einfachste Kontaktweg sei.

Die Bedeutung des Begriffs „Ehren“-Mord
Während der Diskussion wurde auch auf den Begriff „Ehren“-Mord eingegangen. Prof. Kizilhan und Myria Böhmecke betonten, dass diese Gewaltform spezifische Präventionsstrategien erfordere, da die Täter oft aus dem engsten Familienkreis stammen und die Taten in Gruppendynamiken geschehen. Auch Männer können Opfer sein. Böhmecke erklärte: „Wir lassen die Mädchen und Frauen allein, wenn wir das Thema nicht ansprechen.“ Eine offene Benennung des Problems sei notwendig, um gezielte Schutzmaßnahmen entwickeln zu können. Weitere Erklärungen, warum TERRE DES FEMMES den Begriff des „Ehren“-Mords beibehält, finden Sie hier.
Gemeinsam gegen Gewalt und patriarchale Zwänge
Die Diskussion machte deutlich, dass die tief verwurzelten patriarchalen Strukturen, die zu Gewalt im Namen der Ehre führen, auch heute noch viele Mädchen und Frauen in Deutschland betreffen. Um diese Zwänge zu durchbrechen, sind gezielte Präventionsmaßnahmen unverzichtbar. Bildung, Dialog und Vorbilder spielen dabei eine zentrale Rolle. Gleichzeitig bedarf es der Sensibilisierung und Unterstützung durch Institutionen wie Schulen und Jugendämter.
Das Schicksal von Hatun Sürücü mahnt uns, wachsam zu bleiben und für die Rechte und die Sicherheit von Frauen und Mädchen einzutreten. Nur durch entschlossenes Handeln können wir die gesellschaftlichen Zwänge aufbrechen und Betroffenen den Weg zu einem selbstbestimmten Leben ermöglichen.
Hier können Sie die Podiumsdiskussion „Mehr als nur eine Frau“ ansehen
Hintergrundinformationen zu Zwangsheirat, Frühehen und Gewalt im Namen der Ehre
Recherchen zu mutmaßlichen „Ehren“-Morden in den letzten Jahren