83 Prozent betroffen, null Prozent gesetzlicher Schutz: FGM bleibt in Sierra Leone trotz ECOWAS-Urteil legal
Mit einer Prävalenzrate von 83 Prozent gehört Sierra Leone zu den Ländern mit der höchsten Rate an weiblicher Genitalverstümmelung (englisch Female Genital Mutilation, kurz FGM) weltweit. FGM bezeichnet die vollständige oder teilweise Entfernung der äußeren weiblichen Genitalien ohne medizinische Notwendigkeit. Diese Praktik stellt eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar und ist mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden – jedoch ist sie als kulturelle Tradition und soziale Norm noch immer tief in der sierra-leonischen Gesellschaft verwurzelt.
Trotz der Ratifizierung mehrerer internationaler Abkommen, die FGM verurteilen – darunter das Maputo-Protokoll und verschiedene UN-Konventionen – existiert in Sierra Leone kein gesetzliches Verbot der Praktik. Die Beendigung von FGM ist sowohl Ziel der UN-Agenda 2030 als auch der Agenda 2063 der Afrikanischen Union. Sierra Leone erkennt FGM jedoch auf nationaler Ebene nicht als menschenrechtsverletzende Praktik an. Versuche, FGM in der nationalen Gesetzgebung zu kriminalisieren, sind immer wieder gescheitert oder blieben auf temporäre Verbote beschränkt.
Das ECOWAS-Urteil 2025: Der Fall Kadijatu Balaima Allieu
Einen Wendepunkt hätte das historische ECOWAS (Economic Community of West African States – Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft)-Urteil vom 8. Juli 2025 darstellen können. Das Forum Against Harmful Practices (FAHP), ein Zusammenschluss von 31 sierra-leonischen NGOs unter dem Vorsitz der TDF-Partnerorganisation AIM (Amazonian Initiative Movement), klagte gemeinsam mit einer weiteren NGO und der Betroffenen Kadijatu Balaima Allieu gegen die Republik Sierra Leone. Allieu war 2016 im Alter von 28 Jahren auf brutale Art und Weise zwangsbeschnitten worden. In seinem Urteil bezeichnete das ECOWAS-Gericht FGM als „eine der schlimmsten Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen" und stellte fest, dass die Praktik „die Schwelle zur Folter erreicht". Das Gericht entschied, dass die Regierung von Sierra Leone durch das fehlende FGM-Verbot die Rechte von Frauen und Mädchen verletze. Sierra Leone wurde zur Zahlung von 30.000 US-Dollar Entschädigung an Allieu verurteilt und aufgefordert, unverzüglich Gesetze zur Kriminalisierung von FGM zu erlassen.
Eine verpasste Chance: der Child Rights Act
Die Neufassung des Child Rights Act bot eine Gelegenheit, endlich einen rechtlichen Rahmen gegen FGM zu schaffen. Das Gesetz sollte die Kinderrechtsgesetze Sierra Leones modernisieren und an internationale Standards anpassen, mit Bestimmungen zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Schutz vor Missbrauch. Eine Regelung zu FGM blieb dagegen auf Druck der in Sierra Leone politisch einflussreichen FGM-BefürworterInnen aus - das Parlament verabschiedete den Gesetzesentwurf und stellte in einer Pressemitteilung vom 7. Juli 2025 sogar explizit klar, dass das Gesetz „keine Bestimmung enthält, die eine Geldstrafe, Sanktion oder Bestrafung speziell für FGM vorsieht".
Nur einen Tag später, am 8. Juli 2025, folgte das wegweisende ECOWAS-Urteil. Zu diesem Zeitpunkt lag der Gesetzesentwurf Präsident Julius Maada Bio noch zur Unterzeichnung vor. Er hätte das Gesetz ans Parlament zurückschicken und die Aufnahme expliziter FGM-Bestimmungen einfordern können, um dem bindenden Gerichtsurteil Rechnung zu tragen.
Genau dies forderte das FAHP in einem dringenden Appell im September 2025, der sich an die deutsche Regierung richtete. TERRE DES FEMMES unterstützte diesen Appell gemeinsam mit zahlreichen weiteren Organisationen und AktivistInnen. Die zentrale Forderung: Die deutsche Regierung solle sich in diesem kritischen Moment gegenüber der sierra-leonischen Regierung für die Aufnahme einer FGM-Klausel in den Child Rights Act einsetzen.
Dennoch unterzeichnete Maada Bio, der ironischerweise seit Juni 2025 selbst den Vorsitz der ECOWAS innehat, das Gesetz ohne jegliche Änderungen. Damit missachtete er nicht nur das bindende Urteil der Regionalorganisation, die er selbst anführt, sondern untergrub auch die Autorität des ECOWAS-Gerichtshofs und seine eigene Glaubwürdigkeit. Eine Chance, FGM endlich gesetzlich zu verbieten, wurde vertan.
Ein dringender Appell zum Handeln
Die Regierung Sierra Leones muss ihrer Verantwortung gerecht werden und den längst überfälligen Schutz für Mädchen und Frauen gewährleisten. Das ECOWAS-Urteil ist rechtlich bindend und lässt keinen Interpretationsspielraum zu: FGM muss explizit kriminalisiert werden. Die internationale Gemeinschaft ist aufgefordert, diplomatischen Druck auszuüben und Sierra Leone bei der Umsetzung effektiver Schutzmaßnahmen zu unterstützen.
Unsere Partnerorganisation AIM leistet trotz des fehlenden gesetzlichen Schutzes mutige Arbeit vor Ort. Sie thematisiert FGM öffentlich und schützt bedrohte Mädchen und Frauen in ihrem Mädchenschutzhaus. Gemeinsam mit dem FAHP kämpft AIM weiter unermüdlich für ein FGM-Verbot. Diese wichtige Arbeit verdient unsere volle Unterstützung – tragen auch Sie mit einer Spende dazu bei!
Die Zeit des Zögerns muss ein Ende haben. Jeder Tag ohne gesetzlichen Schutz bedeutet weitere Opfer dieser grausamen Praktik. Sierra Leone muss jetzt handeln!