"360 Frauen" von Alina Jacobs – ein Gedicht gegen die O....hnmacht

Poesie ist politisch
Poesie, das heißt Worte finden, wenn andere sprachlos bleiben oder nicht wissen, was sagen und sich deshalb fragen: Wie über etwas sprechen, was eigentlich verstummen lässt? Poesie das heißt, um Worte ringen, die bewegen, wenn immer nur die gleichen Phrasen fallen. Die junge Autorin Alina Jacobs ist preisgekrönte Poetry Slammerin, Moderatorin und Synchronsprecherin: Sie findet Worte und macht sich ihren ganz eigenen Reim auf Missstände, über die nicht geschwiegen werden darf – Gewalt gegen Frauen. Alina engagiert sich seit Jahren intensiv im sozialen, kulturellen und politischen Bereich, wofür sie unter anderem mit dem Jugend-Förder-Preis (2021) und dem Margarete-Böhme-Jugendkulturpreis (2022) ausgezeichnet wurde. Sie hat uns ihr Gedicht "360 Frauen" zugeschickt und wir möchten, dass es jeder liest und dass kein Femizid, keine Gewalttat gegen Frauen vergessen wird.

Kein O.... mehr – über das Ende des Bedauerns
In ihrem Gedicht „360 Frauen“ thematisiert Alina kraftvoll und wütend geschlechtsspezifische Gewalt, strukturelle Ungleichheit und die gesellschaftliche Verdrängung dieser Realität. Mit den „360 Frauen“ klagt sie die 360 vollendeten Tötungen an Frauen und Mädchen im Jahr 2023 an, aber auch alle weiteren, in 2024, in 2025 – jeden zweiten Tag wird eine Frau Opfer eines Femizids (zum "Kalender der schwarzen Tage"), jeden Tag wird eine Frau getötet. Zur Erklärung: Abgesehen von Partnerinnentötungen gibt es in Deutschland keine offiziellen Daten zu Femiziden, da die Bundesregierung den Begriff bisher nicht formal anerkannt hat. Fragen nach Femiziden, die außerhalb von Partnerschaften stattfinden bleiben dementsprechend oft unbeantwortet. Um Tötungen von Frauen als strukturelles Problem sichtbar zu machen und präventiv zu begegnen, ist es jedoch wichtig diese als solche zu benennen und eindeutige Definitionen zu verwenden. Das zeigt sich auch in der deutschen Rechtsprechung. In jedem Fall muss gelten: Die Gewalt gegen Frauen muss enden!
Zentrum in Alinas Gedicht ist die literarische Figur Marquise von O.... aus Kleists Novelle. In dieser Novelle wird die Geschichte einer Frau, der Marquise von O...., erzählt, die durch eine Vergewaltigung schwanger wird. Die Erzählung beleuchtet die patriarchalen Strukturen des 19. Jahrhunderts, in denen das Schicksal und die Autonomie von Frauen keine Rolle spielten. In Alinas Text steht das wiederkehrende „O" mit den vier Auslassungspunkten nicht für die Verschleierung der Identität einer Frau in der "besseren Gesellschaft", sondern bringt zum Ausdruck: Wir wollen kein weiteres "O...." als Ausruf des Bedauerns bei der nächsten Straftat, keine O....hnmacht mehr, sondern endlich eine Gesetzgebung, die Frauen schützt.
TERRE DES FEMMES fordert eine Reform des Sexualstrafrechts. Eine Änderung nach dem Vorbild der Regelungen in Spanien und Schweden ist dringend erforderlich. Die neue Regelung würde eine fundamentale Veränderung des gesellschaftlichen Denkens zu Vergewaltigungen bedeuten: Das bisherige Abwehrprinzip („Nein heißt Nein“) wird durch das Zustimmungsprinzip ersetzt, und verschiebt damit die Verantwortung von der betroffenen Frau weg und hin zum Täter. In einigen EU-Ländern gilt bis heute noch nicht einmal das Prinzip „Nein heißt Nein“, sondern die Frau muss nachweisen, dass sie sich körperlich gewehrt hat. „Ja heißt ja“ ist ein wichtiges Signal: eine Vergewaltigung ist nie die Schuld der Betroffenen. Mehr dazu hier lesen
Alina kritisiert in ihrem Text, dass Gewalterfahrungen oft nicht von den Betroffenen selbst gedeutet werden dürfen, sondern von Institutionen, die männlich dominiert sind – wie Justiz, Medizin oder Medien.
Gleichzeitig appelliert sie an Männer, ihre Privilegien zu hinterfragen und aktiv an einer gleichberechtigten Gesellschaft mitzuarbeiten. Ihr Text macht klar: Solange Frauen um ihr Leben fürchten müssen, ist Schweigen keine Option und der Kampf gegen das Patriarchat nicht vorbei.
Danke, Alina, dass du deine literarische Stimme für gewaltbetroffene Frauen erhebst.
Audioversion Gedicht, von Alina gelesen

"360 Frauen"
360 Frauen
keiner glaubt
360 Frauen
keiner glaubt
360 Frauen
keiner glaubt
360 Mädchen und Frauen wurden 2023 getötet
Täter, stell‘ dich doch mal.
360 ist ‘ne große Zahl,
aber eine, die ich noch greifen kann.
180.715
fällt mir schon schwerer zu verstehen
und zu begreifen
wie so viele Frauen und Mädchen
häusliche Gewalt in Deutschland
erleiden.
Wo ist der Aufschrei
Wo ist das Aufbegehren?
Wie viele Frauen müssen noch durch die Hand ihres Partners sterben?
1808 nahm sich die Marquise von O heraus zu sagen:
Vergewaltiger, zeige dich!
Ich weiß, wer du bist, nur die Masse nicht.
Demaskiere dich!
Du hast dich zu schämen
nicht ich!

Was sie tat, war spektakulär,
sie sagte implizit:
Ich überlasse dir die Deutungshoheit nicht mehr!
Und auch nicht meinem Vater
nicht meinem Arzt,
der mir nicht sagt,
dass man mich vergewaltigt hat.
Mein Vater will sich nicht ehrlich machen,
das würde ja heißen,
er würde über eine „entehrte Tochter“ wachen.
Verkennt er die Realität,
dann gibt es keinen Schandfleck,
keine Entehrung
und kommt Widerspruch, dreht er einfach das Narrativ um.
Wie es schon immer war,
denn wer die Deutungshoheit hat,
setzt Schachmatt.
Der Vater wollte sie töten,
wegen ihrer ungewollten Schwangerschaft,
er hat beim Ziehen der Waffe halt auch sein Ansehen bedacht.
Was sollen die Nachbarn sagen?
Und lieber sollen sie sich über Lärm beklagen
als eine ungewollte Schwangerschaft zu erahnen.

„Die Marquise von O….“ spielt in Italien
und überall.
Die Marquise hat „O….“ gesagt und dann…
ist sie vergewaltigt worden??
O…. wie schrecklich
O….Heide Messerangriff auf Frau – Partner festgenommen
O…. Niedersachsen – Auto erfasst Mutter von sieben Kindern
O…. Hamburg – Ehefrau mit 83 Stichen umgebracht
Die Marquise fordert die Täter heraus sich zu stellen
und die Gesellschaft antwortet ihr mit männlich genormten Schwellen zu Gebäuden der Justiz,
weil es vielleicht doch Richter, die Opfern glauben, gibt.
Frau sagt nicht „Nein“, Gericht spricht Mann von Vergewaltigung frei
Die Marquise fordert die Täter heraus sich zu stellen
und die Gesellschaft antwortet ihr mit männlich genormten Schwellen zu Gebäuden der Politik,
weil es vielleicht doch Gleichwertigkeit aller Geschlechter gibt.
Der Matilda-Effekt: Wie Frauen in der Wissenschaft unsichtbar werden
Die Marquise fordert die Täter heraus sich zu stellen
und die Gesellschaft antwortet ihr mit männlich genormten Schwellen zu Gebäuden der Medien,
weil es vielleicht doch Repräsentanz aller Menschen gibt.
„Frauen im Journalismus weiter unterrepräsentiert“
Die Marquise sagt: „O….“
Er ist ein Engel des Himmels,
aber einer der Bösen
das Versatzstück lässt sich lösen,
weil die Marquise sich der Deutungshoheit ermächtigt
und in einer Zeitungsannonce schreibt:
„Vergewaltiger, ich suche dich!“
Aber nicht nur die Marquise sucht
auch das 15-jährige Mädchen aus dem hamburger Stadtpark sucht neun Vergewaltiger.
In Landshut fragt die Polizei,
waren bei dem sexuellen Übergriff einer jungen Frau Zeugen dabei?
In Niebüll ist eine 36-Jährige nicht mal beim Joggen sicher.

Was ist bei all diesen Gewalttaten als Muster bekannt?
Der Täter war jedes Mal ein Mann.
Es sind Männer, die sich über Frauen erheben,
Männer, die Frauen keine Möglichkeiten geben
Männer, die Frauen Räume zum Stattfinden nehmen.
Es geht um die große männliche Instanz,
um das Patriarchat,
aber doch nicht darum, dass eine Frau bei einer Vergewaltigung wirklich nur „O….“ sagt.
Es geht nicht darum, dass die Marquise nicht wüsste, was war,
es geht darum, was mit ihrer Erzählung / ihrer Perspektive geschah.
Sie wurde umgeschrieben
diffus gemacht
am Ende ist nur ein „O….“ geblieben
sowie – durch Gaslighting die Frage -
habe ich mit gemacht?
Oder nicht genug „Nein“ gesagt?
Wo das gesellschaftliche Schweigen ohrenbetäubend ist,
ist es nicht verwunderlich, dass ein Opfer ihre Stimme vergisst
und am Ende nur noch ein „O….“ bleibt,
bis einem irgendwann auch das zu lang
zu laut scheint
und das „O“ einem Schweigen weicht.
Wo ist der feministische „progress“ in unserer Gesellschaft?
Wurde das Narrativ, dass Gleichberechtigung linear verläuft etwa auch von Männern gemacht?
Wäre an dem „linearen Progress“ etwas dran,
dann wäre dieser Text ein Liebesroman.
Ich könnte nämlich über etwas anderes als geschlechterspezifische Gewalt schreiben,
weil Frauen 2025 nicht mehr an struktureller Benachteiligung leiden.
Weil es keine gläserne Decke gäbe, die ihnen die Sicht versperrt
und visionäres Träumen verwehrt.
Weil meine Annahme auf Wunschdenken beruht,
frage ich mich, wie wird aus Ohnmacht „Wut“?
Und dann wie können wir als Gesellschaft diese Wut begreifen,
um einen transformativen Prozess zu Gleichwertigkeit gestalten.
Wir müssen schon an Schulen anfangen mit Rollen-Stereotypen zu brechen
und dafür sorgen, dass sich Frauen untereinander vernetzen.
Miteinander über Täter sprechen, auch um sich zu warnen
politisch darauf hinwirken, dass Täter Fußfesseln tragen.
Mehr Frauenhausplätze schaffen und diese ausstatten
und Täter verpflichten „Anti-Gewalt-Trainings“ zu machen.
Das sind ein paar Dinge, die müssen simultan passieren,
damit Frauen im Umgang mit Männern
nicht weiter ihr Leben riskieren.
Dazu gehen Frauen in die Selbstermächtigung, in dem sie Männer damit konfrontieren
für eine gleichberechtigte Gesellschaft
Geschlecht zu dekonstruieren?
Natürlich müssten dafür erst mal Männer ihre Privilegien lassen,
aber sollte es nicht unsere Aufgabe sein,
eine Gesellschaft für alle zu schaffen?
©Alina Jacobs